Wolfslied Roman
Kind gewesen bist. Von etwa zwei bis zwölf Jahren. Ich war damals überzeugt, dass du übersinnliche Kräfte besitzt oder von irgendeinem alten Geist besessen bist. Es war teilweise unglaublich, was du alles wusstest. Doch dann hast du dich in dieses seltsame kleine Wesen verwandelt, das sich ständig selbst infrage stellt.«
»Was soll ich dann deiner Meinung nach in diesem Fall tun? Nabelschau abhalten? Bisher hat mir das nicht viel gebracht.«
Sie schwieg für einen Moment, wobei sie ihr Kinn mit der
Hand abstützte und mich nachdenklich betrachtete. »Als Erstes solltest du endlich wieder in Kontakt mit deinem Dritten Auge treten.«
»Geht auch ein Finger?«
»Das ist wohl nicht die Antwort, die du gerne hören möchtest.«
»Wenn ich einen Schamanen konsultieren wollte, hätte ich gar nicht von zu Hause wegfahren müssen.« Zumindest besaß Red den ethnischen Hintergrund, um wenigstens einen Eindruck von Authentizität zu erwecken.
»In deinem Alter hatte ich das Bedürfnis, eine Autorität um Rat zu bitten, schon lange überwunden«, sagte meine Mutter schnippisch.
»Das erklärt auch, warum ich dich immer wecken musste, um rechtzeitig in die Schule gebracht zu werden.«
Ich gab der Bedienung zu verstehen, dass wir zahlen wollten. Sie kam zu uns geeilt. Die kleine silberne Kugel in der Augenbraue und das Nasenpiercing funkelten. Hatte sie uns belauscht? Doch als ich sah, wie sie meine Mutter mit strahlenden Augen ansah, entspannte ich mich. Offenbar handelte es sich nur um eine weitere Verehrerin des filmischen Oeuvres von Piper LeFevre.
»Entschuldigen Sie«, sagte die Kellnerin. »Aber sind Sie nicht Piper LeFevre? Ich bewundere Ihre Filme. Als ich noch klein war, wollte ich unbedingt so werden wie Sie.«
»Das ist wirklich reizend von Ihnen. Aber ich bin gerade in einem Gespräch mit meiner Tochter«, erklärte meine Mutter betont würdevoll. »Und sie wird sehr eifersüchtig, wenn ich ihr nicht meine ganze Aufmerksamkeit schenke.«
Die Bedienung warf mir einen empörten Blick zu. Ich war mehr als bereit, wieder nach Hause zu fahren.
10
Ich persönlich mochte vielleicht zu viel Familienkontakt auf einmal abbekommen haben, aber meine Mutter war leider noch nicht fertig mit mir. Nachdem ich Snowboys entzündeten Zahn untersucht, das verfilzte Fell einer Perserkatze abrasiert und Pimpernel, den ewig kränklichen Chihuahua, entwurmt hatte, war es bereits später Nachmittag. Draußen wurde es allmählich dunkel.
»Du kannst gern hier übernachten«, schlug meine Mutter vor. Sie wusste, wie sehr ich es hasste, in der Dunkelheit zu fahren, und hoffte vermutlich, dass ich dann Snowboys eingewachsenen Zahn am nächsten Morgen ziehen könnte. Aber ich hatte weder das richtige Betäubungsmittel dabei noch sagte mir der Gedanke, den ganzen Abend und Morgen hier mit meiner Mutter festzusitzen, sonderlich zu. Ich hätte vielmehr lieber meine eigene Pfote abgenagt, als noch länger in diesem Haus bleiben zu müssen.
»Du kennst mich doch. Wenn ich gestresst bin, kann ich nicht schlafen.«
»Bleib trotzdem hier, du musst ja nicht schlafen. Du kannst dir meine alten Filme anschauen.«
Meine ganze Pubertät hindurch hatten mich die Bilder meiner Mutter in den verschiedensten Kostümen begleitet,
während die echte Piper LeFevre selig im Nebenzimmer geschlafen hatte. Das war keine Erfahrung, die ich dringend wiederholen wollte. »Danke, Mom. Aber ich muss wirklich wieder zurück.«
»Wie du meinst. Warte nur einen Moment - dann möchte ich dir noch etwas geben.«
Ich hoffte, es handelte sich nicht um etwas Ähnliches wie das Geschenk zu meinem letzten Geburtstag. Sie hatte mir ein Set aus einem Zahnaufheller, einer Pinzette, einem Topf Gesichtswachs und einem Vergrößerungsspiegel überreicht - sozusagen eine Gesamtausgabe kritischer Kommentare über mein Aussehen.
Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Mom? Kannst du mir das nicht ein andermal geben? Ich muss jetzt wirklich los.«
»Sei doch nicht so ungeduldig. Ich komme ja schon.«
Lässig schlendernd, als hätte ich alle Zeit der Welt, kehrte sie zu mir zurück und legte etwas Kaltes und Metallisches in meine Hand.
»Hier, probier das mal an.«
Ich hielt den Gegenstand hoch. Es war eine Silberkette, an der ein großer, milchig blassblauer Stein hing. Alles in allem ein scheußliches Stück, denn die Kette war viel zu schwerfällig und grob für den an sich schönen schlichten Stein.
»Danke, Mom. Aber ich glaube nicht, dass die zu meinen
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