Wolfslied Roman
war eine Singstimme und die andere eine Gitarre. In jener Nacht, als mir diese spontane Verwandlung gelungen war, war allerdings Vollmond gewesen, und Pheromone waren nur so durch die Luft geflogen. Heute Abend gab es nur mich allein - und diesen großen Bären.
Einen Moment lang glaubte ich etwas zu spüren, doch dann merkte ich, dass ich auf dem Rücken lag, und zwar als wimmernde Frau und nicht als Wolf.
Na, großartig.
Der Bär-Mann starrte mich an.
»Was bist du?«, fragte ich, wobei ich tapfer liegen blieb, als er sich näherte. Meine Jeans und mein Parka schützten mich nicht vor der kalten Schneedecke, die den Boden bedeckte. Trotzdem zwang ich mich dazu, mich nicht zu bewegen.
»Was ich bin?« Der Mann kratzte sich an seinem bärtigen Kinn, als würde ihn die Frage überraschen. »Vielleicht bin ich ein Geist. Wer weiß? Lange habe ich geglaubt, ein Geist zu sein. Aber da habe ich mich noch an einem Geisterort
befunden. Ich’atte vergessen, wie es sich anfühlt, Haut und Knochen zu’aben.« Er strich sich mit den Händen über den rauen Pelz seines Mantels. Plötzlich grinste er und entblößte erneut seine blitzenden Zähne. »Vielleicht vergebe ich dir, dass du mich angefahren’ast.«
»Ich wollte das wirklich nicht«, sagte ich und fügte dann hinzu: »Ich heiße übrigens Abra. Und du? Hast du auch einen Namen?«
Meine Freundin Lilliana hatte mir erklärt, dass man Feindseligkeiten gut entschärfen konnte, indem man das Gegenüber mit seinem Namen ansprach, um so eine Art Verbindung herzustellen. Red hingegen hatte mir beigebracht, dass alle Namen etwas von der Macht ihres Trägers in sich bargen, sogar falsche Namen und Pseudonyme.
Mein neuer Bekannter lächelte, als hätte er mich bei einem billigen Versuch erwischt, ihn auszutricksen. »Du kannst mich Bruin nennen, wenn du willst. Die blassen Menschen’aben mich so genannt, als sie sich noch Geschichten über mich erzählten.«
Bruin - in alten französischen und englischen Fabeln war dies der Name für den Bären. Ich erinnerte mich vage an ein Märchen, das ich als Kind gelesen hatte, in dem Schneeweißchen eine Schwester namens Rosenrot hatte, die einen Bären namens Bruin heiratete, der sich letztlich als Prinz entpuppte. Das war zumindest ermutigend. Vielleicht würde er mich doch nicht einfach fressen.
Bruin berührte seine Hände, als könnte er nicht so recht glauben, dass er wirklich welche besäße. Dann warf er den Kopf zurück und lachte dröhnend. » Sacre bleu , fühlt sich wirklich gut an … Wie sagt man? Sich … Sich zu materialisieren?«
»Du bist ein Manitu«, sagte ich leise und musste auf einmal an Reds Wunde denken. Außerdem wurde mir klar, dass dieses Märchen von Rosenrot und dem Bären vermutlich die harmlose Version für Kinder gewesen war. Im Original war wahrscheinlich wesentlich mehr Blut geflossen.
Bruin schien sich zu freuen, das algonkische Wort zu hören. »Dann’at man uns also noch nicht vergessen? Es gibt nur noch wenige von uns. Ich dachte, dass die Deinen vielleicht nicht mehr an uns glauben.« Er ließ sich neben mir auf den Boden fallen. Sein riesiger Mantel öffnete sich, und darunter zeigte sich ein nackter, behaarter und ausgesprochen muskulöser Mann. »Vielleicht möchtest du mich ja anbeten, Menschlein?«
»Ich gehöre eigentlich nicht zu den Menschen, die gerne jemanden anbeten, wenn ich ehrlich bin.«
»Ich könnte dich leicht überreden.«
Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde verwandelte sich Bruin wieder in einen Bären. Der stark animalische Geruch des Tieres schlug mir entgegen und jagte einen kalten Schauer über meinen Rücken. Mein angeborener menschlicher Instinkt, mich zusammenzurollen, kämpfte gegen das wölfische Bedürfnis an, eine Unterwerfungspose einzunehmen. Lupus hatte mir schon einmal Zeit verschafft, weshalb ich mich auch diesmal auf ihn verließ. Der Bär hielt seine lange Schnauze an meinen Hals und schnüffelte.
»Aha, also doch kein Mensch. Eine Wolfsfrau«, sagte er. Oder vielleicht dachte er es auch nur. Ich sah nicht, wie sich sein Maul bewegte, und seine Kehle war ohnehin nicht dazu geformt, menschliche Laute von sich zu geben. »Jemanden wie dich’abe ich schon lange nicht mehr getroffen.«
Wieder schnüffelte er an mir. Mir fiel eine schreckliche Geschichte ein, die vor einiger Zeit in den Nachrichten gekommen war. Ihr zufolge hatte ein zahmer Bär zuerst das Gesicht seines Tierpflegers abgeleckt, um ihn dann unvermutet an der Gurgel zu
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