Wolfslied Roman
konnte.
Ich befand mich bereits auf dem Weg zum Bahnhof, als ich sie auf dem Handy anrief. Falls sie keine Zeit hatte, wollte ich sie fragen, ob ich ihr Appartement benutzen konnte. Wenn das auch nicht klappen sollte, musste ich wohl oder übel in Pleasantvale aussteigen und die aggressive Freundlichkeit meiner Mutter über mich ergehen lassen. Doch zum Glück meldete sich Lilliana schon nach dem ersten Klingeln. Noch ehe ich mich für die Kurzfristigkeit meines Anrufs entschuldigen konnte, erklärte sie bereits, dass sie sowieso nach einer Ausrede gesucht hätte, sich den Tag freizunehmen. Manchmal fragte ich mich, ob sie vielleicht übersinnliche Fähigkeiten besaß.
Um Viertel vor elf stand ich vor ihrer Wohnung in der Upper West Side. Sie öffnete die Tür und sah wie immer mühelos elegant aus, diesmal in einer rotbraunen Tunika und einer schwarzen Yogahose. Die schwarzen Haare hatte sie streng aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Dutt zusammengefasst, während ihre makellose bräunliche Haut auch ohne Make-up vollkommen schien.
Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange und sog dabei ihren Duft ein, den eine menschliche Nase nicht wahrgenommen hätte. Mein Geruchssinn war das Einzige, was sich bereits vor der eigentlichen Verwandlung änderte. Vermutlich lag es an den Hormonen. So kurz vor Vollmond roch meine elegante Freundin überraschend süßlich - fast wie eine überreife Blume oder Frucht. Ich musste den Kopf zur Seite drehen, um mich nicht zu schütteln.
»Entschuldige, Lilli. Ich komm mir fast wie ein Flüchtling vor, einfach so unangekündigt bei dir aufzutauchen.«
»So siehst du aber nicht aus.«
»Schwindlerin.«
Um nicht so elend auszusehen, wie ich mich fühlte, hatte ich meine Wimpern getuscht, Rouge aufgelegt und meine sogenannten Stadt-Klamotten angezogen - eine marineblaue Hose im Seemannsstil und einen cremefarbenen Pulli. Mein Bein tat noch ein wenig weh, aber ich hinkte zumindest nicht mehr. Was auch immer mit Red vor sich gehen mochte - wenigstens hatte er seine heilende Wirkung auf mich noch nicht ganz verloren.
Ich ließ mich auf Lillianas Couch nieder, die so aussah, als ob sie eigentlich - zusammen mit einem Samowar und Yakmilch - in eine luxuriöse ostasiatische Jurte gehörte. Die blau gekachelte Küche erinnerte hingegen eher an Marokko. Nichts davon hätte streng genommen zu den afrikanisch wirkenden Stühlen und Tierskulpturen passen dürfen, die überall herumstanden; doch irgendwie gelang der Mix und ließ die Wohnung in echtem Boho-Chic erglänzen.
»Jetzt komm ich mir schon eher wie ein gehobener Flüchtling vor, wenn ich mich hier so umsehe«, erwiderte ich. »Ich konnte dich ja noch nicht mal vorwarnen, warum ich dich so dringend sehen will.«
»Falls du befürchtest, dass ich einen Tag im Museum und beim Shoppen geplant hatte, kannst du dich jedenfalls entspannen.« Lilliana brachte einen Teller mit frischem Zucchinibrot aus der Küche, das offenbar gerade aus dem Ofen gekommen war. »Du hast am Telefon nicht danach geklungen, als ginge es dir um einen spontanen Vergnügungsausflug.
Also - was möchtest du trinken? Einen Saft? Kaffee? Tee?« Sie musterte mich genauer. »Oder einen doppelten Wodka?«
»Führ mich nicht in Versuchung.«
Lilliana schien eine solche Antwort erwartet zu haben. Sie besaß im Umgang mit Menschen und Tieren einen sechsten Sinn, weshalb Malachy sie auch als Hospitantin in seine Gruppe aufgenommen hatte, obwohl sie bis dahin nur als Sozialarbeiterin für das Institut beschäftigt gewesen war. Oder vielleicht war es auch Lillianas Ton gewesen: Sie war nämlich äußerst geschickt darin, Leute genau zu dem, was sie wollte, zu bringen.
»Was ist los, Abra? Du siehst so aus, als könntest du jeden Moment aus der Haut fahren.«
Ich lächelte gequält.
Lilliana musterte mich. »Bist du schwanger?«
Ich schüttelte den Kopf und erzählte ihr die ganze Geschichte. Zuerst versuchte ich, den Teil mit dem Werwolf wegzulassen, da ich mir etwas lächerlich vorkam und mich auch schämte. Aber Lilliana stellte mir genaue Fragen, und ich merkte recht schnell, dass nichts von dem, was ich sagte, einen Sinn ergab, wenn ich die Tatsache meiner monatlichen Verwandlung ausließ. Bis jetzt war mir nicht bewusst gewesen, wie sehr mich meine Krankheit isolierte. Während des Erzählens wurde mir klar, dass ich die Lykanthropie nicht unter den Tisch fallen lassen konnte. Das wäre ungefähr so gewesen, wie wenn man einen Betrug oder die Tatsache, dass man schwul
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