Wolfslied Roman
war überhaupt nicht hungrig und hätte doch eigentlich halb am Verhungern sein müssen. Dem Kalender zufolge hatte ich seit Tagen nichts mehr gegessen, fühlte mich jedoch so, als würde das Essen mit meiner Mutter erst einige Stunden zurückliegen.
Ich stand auf, um mich nach etwas Essbarem umzusehen. Dabei warf ich einen Blick aus dem Fenster, wo ich Red sah, der vom hellen Mondlicht beleuchtet wurde. Er hockte neben Rocky auf dem Boden und wirkte wie ein geduldiger Vater, der mit seinem kleinen Sohn spielt.
Dann stand er plötzlich auf und riss sich das Hemd vom Leib, so dass ich die Tätowierung des heulenden Kojoten auf seinem rechten Oberarm sehen konnte. Sein Atem hing weiß in der kalten Luft, während er sich den Verband löste. Schließlich kniete er sich hin, um seine Stiefel aufzuschnüren. Rocky kletterte frohen Mutes auf seinen Nacken, und Red zog sich die Jeans aus.
Ich wusste, was er vorhatte. Im Gegensatz zu mir konnte sich Red jederzeit verwandeln. Er musste dazu nur in einem ekstatischen Zustand sein. Doch heute Abend sah es nicht danach aus, als vollzöge sich die Verwandlung problemlos. Ich beobachtete, wie sich die Muskeln in seinem schlanken, sehnigen Körper zusammenzogen. Er gehörte zu jenen Männern, die fast dürr wirken, bis sie sich entkleiden und man ihre sehnigen Muskeln sieht. Nackt wirkte er wie ein Mann aus einer anderen Zeit - damals, als körperlich hart arbeitende Männer noch kraftvoll und mit dem Alter nicht immer weicher und wabbeliger wurden.
Jetzt setzte er Rocky auf den Boden. Die Wunde an seinem Oberarm war fast verheilt, aber dafür hatten sich die Verletzungen von anderen Auseinandersetzungen zu Narben zusammengezogen. Für einen Gestaltwandler war das ungewöhnlich, und ich vermutete, dass es sich dabei um die Spuren seines Kampfes mit dem Manitu handeln musste. Was das wohl für meine Beinverletzung bedeutete? Als ich das Bein ausstreckte, fühlte es sich allerdings wieder viel besser an, ja schon fast wieder ganz normal.
Red warf den Kopf zurück, und der Waschbär richtete sich auf seinen Hinterbeinen auf, um besser an ihm schnüffeln zu können. Red ließ seine Schultern kreisen, dehnte die Muskeln und versuchte sichtbar, sich zu entspannen. Trotz des noch immer vorhandenen Schmerzes in meinem Bein spürte ich, wie sich zwischen meinen Schenkeln und bis zu meiner Brust eine wohlige Wärme ausbreitete. Der Mond musste inzwischen beinahe voll sein, was mich ein wenig stutzig werden ließ. Warum hatte ich bisher keinerlei Anzeichen an meinem Körper bemerkt? Erst jetzt wurde ich gewahr, dass meine Brüste empfindlicher waren als sonst, während sich in meinem Bauch ein Krampf andeutete und meine Knochen zu spannen begannen. Die Verwandlung hatte eingesetzt. Auf einmal fielen mir zwei Zeilen aus einem alten Song der Rolling Stones ein: ›The change has come, she is under my thumb …‹
Ich legte meine flache Hand an die Fensterscheibe, während Red heftig, ja beinahe wütend die Hände über seinen Körper wandern ließ, um das richtige Gefühl und somit die Verwandlung herbeizuzwingen. Seit einer halben Ewigkeit hatte ich ihn nicht mehr so sehr begehrt wie in diesem Augenblick. Ich richtete mich auf, bereit, ihm zu folgen,
wobei ich meine verletzte Wade gänzlich vergaß. Doch schon im nächsten Moment schoss ein starker Schmerz durch mein Bein, der mich zusammenzucken und mein Vorhaben aufgeben ließ.
Red lief ein Schauder über den Rücken. Er bebte heftig und ging so plötzlich in die Hocke, als hätte er das Gleichgewicht verloren. Ich sah, wie sich seine Brust hob und senkte. Irgendetwas war anders als sonst, auch wenn ich nicht wusste, was.
Da drehte sich Red, der zu spüren schien, dass ich ihn beobachtete, zu mir um. Seine Augen glühten und funkelten wie Bernstein. In diesem harten, abschätzenden Blick war nichts mehr von dem sanften Mann zu erkennen, der er sonst war. Das kann nicht sein, dachte ich verwirrt. Er ist ein Gestaltwandler, kein Lykanthrop. Und ein Gestaltwandler bleibt immer bei vollem Bewusstsein.
Ich wollte gerade doch zu ihm hinausgehen, als er den Blick senkte und sich so schnell drehte, dass der kleine Waschbär erschrocken quietschte. Red schnappte mit seinen scharfen Zähnen nach dem jungen Tier. Entsetzt hielt ich die Luft an. Rocky quietschte erneut, wich aber nicht zurück, da er offenbar kaum glauben konnte, dass ihm sein Adoptivvater etwas antun würde. Außerdem hatte er schon früher miterlebt, wie sich Red in einen
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