Wolfslied Roman
mit einem elfischen Lächeln.
»Ich hätte meine Kontaktlinsen mitbringen sollen. So kann ich mich nicht sehen.«
Ich nahm meine Brille in der Öffentlichkeit ausgesprochen ungern ab. Außer mir konnten dann alle problemlos sehen, während ich nur noch braune und goldene Schleier um mich herum wahrnahm.
»Sie können gern nochmal kommen«, schlug der Verkäufer vor.
»Nein, ich brauche jetzt eine Brille. Mit der hier kann ich mich nicht mehr sehen lassen.« Ich zeigte auf das altmodische Gestell mit den zerkratzten Gläsern.
In Wahrheit stimmte das natürlich nicht. Red merkte weder, wenn meine Haare keine Form mehr hatten, noch dass meine Brille zehn Jahre alt war. Ihm war es auch egal, ob ich mich schminkte oder meine Beine rasierte. Für ihn war ich in einem Kartoffelsack genauso sexy wie in Seide, genauso erotisch mit Pelz oder ohne. Das liebte ich auch so an ihm, und gleichzeitig - wenn ich ganz ehrlich war - gab es doch auch Momente, in denen ich mir gewünscht hätte, dass ihm so etwas nicht so gleichgültig gewesen wäre. Ich war sicher keine Frau, die sich große Gedanken um Mode machte, aber wie die meisten Frauen versuchte auch ich, in meiner Kleiderwahl etwas von dem auszudrücken, was mich ausmachte. Was die Sprache von Klamotten und Make-up betraf, so war Red jedoch ein völliger Analphabet. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass ich schließlich wesentlich größere Bedenken hegte, was ihn betraf. So quälte mich zum Beispiel die Frage, ob er das Tier, das er bis vor kurzem noch so liebevoll umsorgt hatte, inzwischen umgebracht und verspeist haben mochte …
Lilliana nahm eine weitere Brille zur Hand, die sie mir reichte. »Die ist auch hübsch … Mit dem durchsichtigen Rahmen oben. Mit der siehst du wie eine sexy Künstlerin aus.«
Ich trat an den Spiegel und blinzelte mein Spiegelbild kurzsichtig an, um herauszufinden, ob ich mich tatsächlich derart verwandelt hatte, dass man mich als sexy bezeichnen konnte. Leider vermochte ich nur ein verschwommenes Etwas auszumachen, das vermutlich mein Gesicht war.
»Ja, die gefällt mir auch«, sagte der Verkäufer, der wahrscheinlich auch noch ein Monokel sexy gefunden hätte, wenn Lilliana das vorgeschlagen hätte.
Ich setzte wieder meine alte Brille auf und ließ meinen Blick durch den Schaukasten wandern. »Und wie ist es mit der da, Lilli?« Ich zeigte auf runde Gläser in einer Schildpattfassung.
»Wie für eine Bibliothekarin.«
Ich setzte die Brille trotzdem auf und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Vielleicht eine sexy Bibliothekarin? So eine, die sich die Nadeln aus den Haaren zieht und ihre Bluse etwas aufknöpft? Und schon ist sie eine hinreißende Sexbombe!«
Der Spiegel antwortete mir nicht, und als ich wieder meine alte Brille aufgesetzt hatte und meine Freundin ansah, hatte sie die Stirn gerunzelt.
»Lass uns doch noch einen anderen Look ausprobieren«, meinte sie ausweichend. »Könnte meine Freundin diese da mal anschauen … Nein, ich meine die schwarze mit den kleinen Elfenbeineinlagen … Genau.«
Die Brille befand sich in einer verschlossenen Vitrine, was mir signalisierte, dass sie eigentlich außerhalb meiner Preisklasse lag. Der Verkäufer reichte sie mir so vorsichtig, als wäre es ein kanariengelber Fancy-Diamond.
»Das ist bisher die beste«, erklärte er, als ich die Brille aufgesetzt hatte.
»Und zufälligerweise auch die teuerste«, entgegnete ich kühl.
»Nein, er hat Recht.« Lilliana strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Das ist jetzt wirklich die sexy Bibliothekarin, Abra!«
Ich beschloss, ihr zu glauben. »Okay, ich nehme sie«, erklärte ich dem Verkäufer. »Wie lange brauchen Sie, um meine Gläser zu schleifen und einzusetzen?«
»Möchten Sie die gleiche Stärke wie bisher?«
Ich nickte. Der Mann nahm mir die alte Brille mit einer angewiderten Miene ab, als handele es sich dabei um eine tote Ratte. Er verschwand kurz im Hinterzimmer und kehrte dann wieder zu uns zurück. »Zwei Wochen.«
»So lange?«
Sein Lächeln wirkte abschätzig. »Es tut mir leid. Sie können natürlich gerne zu einem dieser Schnelloptiker gehen, die jetzt überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Aber hier legen wir noch Wert auf unsere Arbeit. Zudem haben wir momentan sehr viele Aufträge zu bearbeiten.«
Ich wollte schon kapitulieren und ihn bitten, mir die Brille zuzuschicken, als Lilliana ihre Hand federleicht auf den Arm des Mannes legte. »Ich weiß, dass Sie ausgezeichnete Arbeit leisten, Jeremy«,
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