Wolfslied Roman
Lichttunnel fahren. Es musste an den Scheinwerfern des Autos liegen, die gemeinsam mit den Schneeflocken eine optische Illusion erzeugten.
»Lust auf etwas, was Sie sonst vermutlich nicht so oft hören?«
Ich nickte, und Emmet schaltete die CD ein. Ein seltsam sonores Wehklagen zu einem mir unvertrauten Rhythmus erfüllte das Auto. Ich war mir nicht sicher, ob da eine Frau oder ein Mann sang und ob das Lied von der Herrlichkeit Gottes oder der eines schwer fassbaren Geliebten handelte. Ganz offensichtlich war es jedenfalls keine leichte Beziehung, da der Refrain aus einem ausgedehnten Seufzen bestand.
»Soll ich es lieber wieder ausschalten?«
Ich schüttelte den Kopf. Erstaunlicherweise fing ich an, mich an die Melodie zu gewöhnen, und ich musste sogar mein plötzliches Bedürfnis unterdrücken, im Takt der Musik mitzuheulen.
Als ich einen verstohlenen Blick auf das dunkle, ernste Gesicht des Sheriffs warf, zweifelte ich zum ersten Mal daran, dass er - wie ich das bisher angenommen hatte - ein Indianer war.
Vielleicht war er ja arabischer Herkunft. Ich hatte erst vor kurzem eine Radiosendung über Libanesen und Syrer gehört, die sich vor hundert Jahren im amerikanischen Westen niedergelassen und dort entweder kleine Geschäfte oder Restaurants eröffnet hatten, wo man Kibbeh und Schawarma ebenso wie texanisches Barbecue servierte.
Dann sah ich das Amulett, das am Rückspiegel hing und den Davidsstern zeigte.
Plötzlich begriff ich. Die Tätowierung, die ich auf seiner Stirn gesehen hatte, das waren hebräische Schriftzeichen gewesen. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, da ich mich erinnerte, wie mir eine Schulfreundin einmal erzählt hatte, dass es sich gegen das jüdische Recht richtete, sich tätowieren zu lassen. Emmets Tattoos sahen wie ein Stammeszeichen aus. Jemand hatte zuerst tiefe Furchen mit einem Stein oder etwas Ähnlichem eingeritzt, ehe Farbe aufgetragen worden war.
Selbst für Northsider Verhältnisse kam mir der Sheriff sehr seltsam vor.
»Machen Sie das auf«, sagte Emmet und zeigte auf das Handschuhfach vor mir.
Ich hielt den Atem an und tat, worum er mich gebeten hatte. In dem Fach lag ein blutbeflecktes Stück Stoff, in das etwas eingewickelt war, was zirka zwölf Zentimeter lang und fünf Zentimeter breit war.
»Nehmen Sie es.« Die Stimme des Sheriffs klang ruhig und spiegelte weder eine Verurteilung noch Mitgefühl wider. »Ich habe es neben diesen beiden Jungs am Boden gefunden.«
Gütiger Himmel.
Ein wirres Bild aus Blut und Fleisch schoss mir durch den Kopf. Ich war mir nicht sicher, ob ich tatsächlich getan hatte, was diese Erinnerung bedeutete, und ich wollte es auch gar nicht wissen.
»Los. Es gehört Ihnen.«
Ich begriff: Was ich in meiner Wolfsgestalt tat, dafür wurde ich auch in Menschengestalt zur Verantwortung
gezogen. Mit zitternden Händen warf ich dem todernst wirkenden Mann neben mir einen Blick zu und wickelte dann langsam den Stoff auf.
Meine neue Brille fiel mir in den Schoß, und ich hielt vor Schreck einen Moment lang die Luft an.
Die regungslos wirkende Gestalt neben mir gab einen seltsam tiefen Gurgellaut von sich. Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass der Sheriff lachte. Das ist überhaupt nicht lustig, dachte ich empört und starrte ihn finster an, ehe ich die Brille mit dem Stofftuch sauber rieb.
Emmet gluckste noch einmal leise vor sich hin und bog dann auf die ungeteerte Straße ein, die zu unserer Blockhütte führte. Nach diesem Zwischenfall fühlte ich mich in Gegenwart dieses Hünen jedenfalls deutlich entspannter als zuvor. Allein die Tatsache, dass er einen Sinn für Humor hatte - wenn auch einen schlechten -, ließ ihn in meinen Augen auf einen Schlag wesentlich menschlicher erscheinen.
Er parke den Wagen auf der Straße, offenbar da er nicht im Schnee stecken bleiben wollte. Wir gingen gemeinsam zu unserer Hütte. Unsere Spuren wurden sofort wieder von dem immer dichter fallenden Schnee bedeckt. Emmet zufolge erwartete man bis zu einem Meter zwanzig Neuschnee in den höheren Regionen, wobei er meinte, dass ihn auch ein Meter achtzig nicht überraschen würde.
Red war nicht zu Hause, was wiederum mich nicht überraschte, wenn ich an die Anziehungskraft des beinahe vollen Mondes dachte. Also half mir der Sheriff, die Kerosinlampen zu entzünden. Danach machte er sich daran, mit seinen tellergroßen Händen im Kamin ein Feuer zu entfachen. Er musste ziemlich aufpassen, dass er sich in
unserer kleinen Hütte nicht
Weitere Kostenlose Bücher