Wolfsmagie (German Edition)
später befanden sich Kris und ihr Bruder auf dem Weg nach Drumnadrochit. Beide waren tief in Gedanken versunken, während sie versuchten, die Teile zweier verschiedener Puzzles zusammenzusetzen.
»Warte mal.« Kris blieb stehen. Marty folgte ihrem Beispiel. »Wo kommt der Gestaltwandler ins Spiel?«
Ihr Bruder sah sie verständnislos an.
»Ein Kelpie ist ein Gestaltwandler«, führte Kris aus. »Zumeist ein Pferd, das zu … was auch immer wird. Du sagtest jedoch, dass es sich bei unserem Kelpie um einen attraktiven Mann oder eine schöne Frau handelt, der oder die ahnungslose Menschen zum Sex verführt, bevor er oder sie das Opfer ertränkt.«
»Richtig.«
»An welcher Stelle verwandelt sich jemand? Das Pferd wurde zu was auch immer. Aber der Mensch wurde …?«
»Ach so!« Begreifen trat auf sein Gesicht. »Der Legende zufolge ein Nathair .«
»Was bedeutet?«
»Eine Schlange.«
Kris zuckte zusammen. Die Sache entwickelte sich zunehmend schlecht für Jamaica.
»Allerdings …« Marty runzelte die Brauen. »Die Zeichnung in dem Buch stellte keine Schlange dar.« Er schaute auf den See. »Sondern Nessie.«
Kris folgte seiner Blickrichtung. Das Wasser wogte friedvoll ans gegenüberliegende Ufer der Bucht, gestört durch nichts als ein paar Boote, hier und da ein Stück Treibholz oder einen glänzenden Felsen. »Also hat sich der bildschöne Mensch in ein kaltes, hässliches, schlangenköpfiges Ungetüm verwandelt.«
»Verstehst du jetzt, warum diese Legende meine Aufmerksamkeit erregt hat?«
»Meine nicht minder.«
Derselbe Junge, der schon beim letzten Mal die Theke bemannt hatte, stand auch heute wieder dahinter und gab die gleiche Antwort auf Kris’ Frage nach Jamaica.
»Sie ist erst in ein paar Tagen wieder da.«
»Das haben Sie schon gestern gesagt«, erinnerte Kris ihn. »Also, müsste sie dann morgen nicht zurück sein?«
Der Jugendliche runzelte die Stirn und wiederholte: »Sie ist erst in ein paar Tagen wieder da.«
»Du verwirrst ihn«, sagte Marty und bugsierte Kris, nachdem er für beide einen Becher Kaffee geordert hatte, aus der Tür. »Und was jetzt?«
Sie hatte ihm nichts von Jamaicas Schlangen-Tattoo verraten wollen, das, in Kombination mit all den anderen Nessie-Körperteilen, die Kris an anderen Menschen gesehen hatte, große Ähnlichkeit mit Nessies Kopf aufwies, doch jetzt sah sie sich dazu genötigt. Jamaica war verschwunden. Entweder war ihr etwas zugestoßen oder sie war diejenige, die Kris von der Klippe gestoßen, sie bewusstlos geschlagen und ihr Messer in die Brust einer unschuldigen Frau gerammt hatte.
Und Gott allein wusste, was sonst noch alles.
»Sie ist tätowiert«, platzte sie heraus.
»Wer ist tätowiert, und warum sollte mich das interessieren?«
»Jamaica hat ein Tattoo an ihrem Knöchel, von dem ich dachte, es wäre eine Schlange, aber …« Kris holte Luft und erzählte ihm den Rest.
Die Neugier in Martys Miene wich einem Ausdruck der Besorgnis. Er zog sein Handy heraus und schrieb eine SMS . Ihr Bruder schien so nah bei den Bergen keine Probleme mit dem Empfang zu haben. »Ich werde den Hintergrund der Frau überprüfen lassen. Jamaica Blue kann unmöglich ihr echter Name sein.«
»Das glaube ich auch nicht.«
»Das in Verbindung mit ihrer Tätowierung, ihrer Vergangenheit als Hexe und ihrem Verschwinden kann nur Ärger bedeuten. Jetzt müssen wir bloß noch herausfinden, welche Art von Ärger.«
Er klickte auf Senden , dann steckte er das Handy ein. »Zeig mir die anderen Tätowierungen.«
Zum Haus der Camerons war es nicht weit. Dort würden sie es zuerst versuchen.
»Ham Sie wieder Probleme mit der Tür?«, fragte Rob, als er seine eigene öffnete.
»Nein. Sie funktioniert prima.« Jetzt, da Marty und sie hier waren, hatte Kris keine Idee, wie sie einen Blick auf Robs Unterarm erhaschen sollten.
Marty stieß ihr den Ellbogen in die Rippen. »Willst du mich nicht vorstellen?«
»Ach, ja. Dies ist, ähm …« Sollte sie sagen, dass er ihr Bruder war? Ein Interpol-Agent? Die Reinkarnation von Bonnie Prince Charlie?
Oder lügen? Das war noch nie ihre starke Seite.
Marty gab Kris, die ihren Kaffee bereits geleert hatte, seinen halbvollen Becher, dann machte er mit ausgestrecktem Arm einen Schritt nach vorn. »Ich bin Marty Daniels. Kris’ Bruder.«
Er schüttelte Rob kräftig die Hand, dann gab er vor, etwas Beunruhigendes gesehen zu haben, schob Robs Ärmel nach oben und enthüllte … ein tätowiertes Paar Flossen.
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