Wolfsmagie (German Edition)
blickte wieder zum Fenster, hinter dem die Dunkelheit immer mehr vom Licht verdrängt wurde. Dann stand er auf und bedeckte seine prächtige Haut mit seinem Hemd. »Treffen wir uns heute Abend im MacLeod’s?«
»Wann?«
»Nach Sonnenuntergang.«
»Was ist das denn für eine Zeit?«
»Die beste. Ich mag die Nacht.«
»Warum?«
»Weil ich da nicht arbeiten muss.«
»Was machst du beruflich?«
Er zögerte, und eine Sekunde lang wusste Kris instinktiv, dass er sie belügen würde. Als er antwortete, war sie sich überhaupt nicht sicher, dass er es nicht tat.
»Ich bewache den Loch Ness.«
»Du meinst, du bist so etwas wie ein Parkaufseher?«
»So ähnlich. Ich wandere umher, tue, was getan werden muss. Klaube den Müll auf. Beschneide die Äste, die zu tief hängen. Vergewissere mich, dass die Straßen nicht voller Schlaglöcher sind. Helfe kleinen Tieren und so weiter.«
»Du patrouillierst am Loch Ness, trotzdem hast du das Ungeheuer nie gesehen?«
»Hast du eine Vorstellung, wie groß der See ist?«, fragte er. Dann sprach er weiter, noch ehe sie antworten konnte. »Er ist achtunddreißig Kilometer lang und an manchen Stellen bis zu eineinhalb Kilometer breit. Die maximale Tiefe …« Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. »Vor Urquhart Castle beträgt sie mehr als das Doppelte der mittleren Tiefe der Nordsee.«
Kris hatte keine Ahnung, was eine mittlere Tiefe war, aber sie kapierte, worauf er hinauswollte. Der Loch Ness war höllisch tief.
»Seine Oberfläche befindet sich sechzehn Meter über dem Meeresspiegel. Der Loch ist von Bergen, Felswänden und Wäldern umgeben. Es sind Regionen, die man kaum zu Fuß erreichen kann. Professionelle Taucher sprechen von einer entsetzlichen Dunkelheit, die einen schon bei der geringen Tiefe von einem Meter fünfzig erwartet. Das Verblüffende ist nicht, dass ich Nessie nie gesehen habe, sondern dass es überhaupt jemand je getan hat.«
Er hörte sich an wie ein Fremdenführer. Oder wie ein Parkaufseher.
»Ich meinte nicht …«
»Ist schon gut. Ich weiß, dass du immer wieder belogen wurdest, und das tut mir sehr leid.«
»Du bist nicht derjenige …« Besser gesagt diejenigen. »… der mich so misstrauisch hat werden lassen.«
Liam fuhr sich mit der Hand durch die Haare und wechselte das Thema. »Wir treffen uns heute Abend, dann beweise ich dir, dass ich kein Geist bin.«
Laut ausgesprochen klang das genauso albern, wie es in ihrem Kopf geklungen hatte.
»Das denke ich doch gar nicht«, protestierte Kris. »Wie könnte ich? Immerhin habe ich zahlreiche Geister als Ammenmärchen enttarnt.«
»Es gibt Geister, mein Mädchen.« Liams Stimme war sanft und ein wenig traurig geworden. »Hier bei uns sogar eine ganze Menge.«
»Die du gesehen hast?«
»Ja«, bestätigte er mit abwesendem Blick. »Die ich gesehen habe.«
»Wie kommt das?«
Er blinzelte und schaute wieder zu ihr. »Wie kommt was?«
»Dass du Geister gesehen hast. Hast du nach ihnen gesucht?«
»Nein.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Lippen, dann machte er sich auf den Weg zur Tür. »Die Geister suchen nach mir.«
14
Hatte Liam sie mit den Geistern verulkt? Kris glaubte, dass dem nicht so war. Sein Gesicht, seine Stimme hatten von einer Traurigkeit gekündet, die ihr nur zu vertraut war.
Er hatte Menschen verloren und fühlte sich deswegen schuldig.
Kris’ Mutter hatte gekämpft. Sie hatte es versucht. Aber es war aussichtslos gewesen. Trotzdem hatte Kris ihr nicht vergeben können, einem verzweifelten Teenager etwas versprochen zu haben, das zu versprechen sie kein Recht besaß. Sie hätte ehrlich sein und Kris und ihren Bruder besser vorbereiten müssen, anstatt bis zum bitteren Ende zu schwindeln, was ihre Überlebenschancen betraf.
Ihr Leugnen war es, das sie nicht hatte verzeihen können. Natürlich hatten die Lügen und Kris’ Reaktionen darauf ihrer Karriere Vorschub geleistet, nur galt das Gleiche für ihre Schuldgefühle. Sie hegte deswegen noch immer einen tiefen Groll gegen ihre Mutter, der sie in vielen Nächten um den Schlaf brachte. Kris war überrascht, dass sie nicht längst Geister sah.
Besser gesagt einen Geist.
Natürlich glaubte sie nicht an Besuche aus dem Jenseits. Andererseits hatte sie auch nicht an Nessie geglaubt. Wenn sie der Welt bewiese, dass Nessie real war, würde sie dann ebenfalls anfangen, den Geist ihrer Mutter hinter jeden dunklen Ecke zu sehen?
Kris war nicht sicher, ob sie dafür die Nerven hätte.
Ihren bizarren und
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