Wolfsmagie (German Edition)
hatte er sie beobachtet.
Sie hatte immer wieder zu den Bäumen geschaut, dem See, den Bergen, demnach wusste sie offenbar, dass er hier war. Liam hätte sich schämen müssen, aber das tat er nicht. Warum auch? Dafür gab es keinen Grund.
Irgendjemand tötete Frauen. Irgendjemand hatte versucht, sie zu töten. Um Nessi die Schuld zu geben.
Liam konnte nicht zulassen, dass dies geschah.
»Hallo?«, rief Kris beim Eintreten.
Keine Antwort. Hatte sie wirklich mit einer gerechnet?
Ihre Augen scannten den Wohnbereich und die Küche; sie spähten zum dunklen Schlafzimmer und zum Bad. Von ihrer Position aus sah sie keinen psychopathischen Killer auf der Lauer liegen.
Leider war genau das das Problem bei psychopathischen Killern. Sie gaben sich nie zu erkennen, bevor es zu spät war.
Kris stieß ein zittriges Lachen aus. Ihres Wissens reparierten psychopathische Killer auch keine kaputten Türen.
Ein glänzender neuer Schlüssel lag auf der Küchenzeile. Allerdings war keine Notiz hinterlassen worden, die den Eindringling identifiziert hätte.
Die einzige Erklärung war Liam. Er hatte ihre Tür aufgebrochen; niemand außer ihm und Kris wusste davon. Entweder hatte er sie repariert oder er hatte Rob darum gebeten.
Trotzdem würde sie Schlafzimmer und Bad genauer untersuchen.
»Und die Pistole mitnehmen«, sagte sie, als sie die Schublade vom Couchtisch aufzog und erleichtert feststellte, dass die Waffe noch da war.
Ihre Ankündigung, sie mitzunehmen, einhaltend, schlich Kris zum Bad und schmetterte die Tür mit aller Kraft gegen die Wand. Niemand jaulte vor Schmerz. Niemand schoss auf sie. Sie wiederholte das Ganze bei der Schlafzimmertür, mit dem gleichen Ergebnis.
Auch ihre Durchsuchung der Dusche, der Schränke und der Dunkelheit unter dem Bett förderte keine Körper zutage – weder tote noch lebendige –, es sei denn, man ließ Käfer gelten.
Kris musste zugeben, dass sie sich bewaffnet besser fühlte. Allerdings wäre es jedem Einbrecher ein Leichtes gewesen, aus seinem Versteck zu stürzen und ihr die Pistole aus der Hand zu reißen. Vorausgesetzt, Kris ließ sie nicht zuvor fallen und schoss sich in den Fuß.
Nach vollendeter Suche nahm sie den Schlüssel, sperrte die Haustür zu, legte die Pistole zurück und schaltete ihren Computer an. Sie versuchte, Mandenauer zum Leben zu erwecken. Genauso gut hätte sie versuchen können, einen Toten zum Leben zu erwecken. Ein Ding der Unmöglichkeit, wenn man nicht wusste, wie es ging.
Kris rieb sich die Augen. Was war bloß in sie gefahren? Niemand wusste, wie man einen Toten zum Leben erweckte. Dieses ganze Gequatsche mit Jamaica über Magie, Opferungen und uralte Religionen hatte ihr den Verstand vernebelt.
Fast wünschte sie, Mandenauer ihren Namen aus dem Laptop rufen zu hören. Sie wettete, dass er alles über Obeah wusste, was es zu wissen gab.
Nachdem der Computer beharrlich weiter einfach ein Computer blieb, begann Kris, im Internet zu surfen.
Das meiste, was sie entdeckte, wusste sie schon von Jamaica. Es schien nur spärliche Informationen über Obeah zu geben, was vermutlich auf den Respekt – sprich die Angst – vor dem Kult zurückzuführen war. Daraus, dass viele Jamaikaner ihn als eine gefährliche Form der Hexenkunst ansahen und sogar davor zurückschreckten, das Wort laut auszusprechen, ließ sich folgern, dass die, die am meisten über ihn wussten – also die Jamaikaner –, sich nicht in Schulbüchern, auf Webseiten oder in Seminaren zu dem Thema äußerten.
Als sie eine Suche über Opferungen, Hexen und Macht startete, stieß sie auf eine Sache, die ihr überhaupt nicht behagte.
»Je mehr du gibst, desto mehr sollst du erhalten«, las sie. »Je größer das Opfer, desto größer die dir verliehene Macht.«
Zuerst verstand Kris das in dem Sinn, dass man nach der Opferung eines Elefanten ziemlich gut in Form sein sollte. Bis die Nationalparkpatrouille einen in die Finger bekam. Dann wäre man geliefert. Und das zu Recht.
Doch je länger sie recherchierte, je mehr sie darüber erfuhr, was mit einem Opfer gemeint war, desto überzeugter wurde sie, dass es nicht um Körpergröße ging, und das machte ihr Angst.
»Intelligenz«, flüsterte sie. »Wildheit. Gerissenheit. Wenn sie leicht zu töten sind, was hätte das Opfer dann für einen Wert?«
Folglich war die Opfergabe an den Gott umso größer, je schwerer sich das betreffende Leben auslöschen ließ.
Dementsprechend würde ein Löwe mehr Macht einbringen als ein Lamm, ein
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