Wolfsmale
nicht, zu denken, was
ich weiß, das du denkst! Das ist die allergrößte und beschissenste Beleidigung!«
Auf dem Flur herrschte lange Zeit Schweigen. Irgendwo klapperten Schreibmaschinen. Lautes Lachen
von Männern war zu hören. Eine gesummte Melodie schwebte den Flur entlang und an ihnen vorbei. Es
war, als wäre die ganze Welt gleichgültig diesem Streit gegenüber. Und da standen sie, nicht ganz
Freunde, nicht ganz Feinde, und wussten nicht mehr so recht, was sie tun sollten.
Rebus betrachtete die abgewetzten Stellen auf dem Linoleum. Dann sagte er: »Vortrag
beendet?«
Flight schien diese Reaktion wehzutun. »Das war kein Vortrag, es war bloß... Ich wollte, dass du
meine Sicht der Dinge siehst.«
»Aber das tu ich doch, George, ganz bestimmt.« Rebus tätschelte Flights Arm, wandte sich von ihm
ab und machte Anstalten, zu gehen.
»Ich will, dass du hier bleibst, John!« Rebus ging weiter. »Hast du gehört? Ich befehle dir, hier
zu bleiben!«
Rebus ging weiter.
Flieht schüttelte den Koof. Ihm reichte es, er hatte die Nase gestrichen voll, außerdem brannten
ihm die Augen vor Erschöpfung, als befände er sich in einem stark verräucherten Zimmer. »Du
fliegst raus, Rebus«, rief er in dem Wissen, dass das seine letzte Warnung wäre. Wenn Rebus jetzt
noch weiterginge, wäre Flight gezwungen, sein Wort zu halten, wenn er nicht sein Gesicht
verlieren wollte, und er würde einen Teufel tun, wegen eines Jock-Polypen das Gesicht zu
verlieren. »Geh nur weiter!«, brüllte er. »Geh weiter, und du hast es hinter dir.«
Rebus ging weiter. Er wusste nicht genau warum, vielleicht mehr aus Stolz als aus anderen
Gründen. Dämlicher Stolz, Stolz, den er nicht erklären konnte, aber trotzdem Stolz. Dasselbe
Gefühl, aus dem heraus erwachsene Männer bei Fußballspielen weinen, wenn »Flower of Scotland« als
schottische Nationalhymne gespielt wird. Er wusste nur, dass er etwas zu erledigen hatte, und er
würde es tun, genauso wie die Schotten wussten, dass es ihre Aufgabe war, Fußballer mit mehr
Ehrgeiz als Können zu sein.
Ja, das traf auch auf ihn zu: mehr Ehrgeiz als Können. Das würde man ihm auf den Grabstein
schreiben.
Am Ende des Flurs stieß er die Pendeltür auf. Er blickte nicht zurück.
Flights Stimme verfolgte ihn, wurde immer wütender, aber auch immer leiser.
»Du verdammter dämlicher Jock! Diesmal bist du zu weit gegangen, hörst du mich. Entschieden zu
weit gegangen.«
LMAA.
In der Eingangshalle stand Rebus plötzlich vor Lamb. Er wollte an ihm vorbeigehen, doch Lamb
legte ihm eine Hand auf die Brust.
»Wo brennt's denn?«, fragte er. Rebus versuchte, ihn zu ignorieren, so zu tun, als wäre Lamb
unsichtbar. Das war jetzt wirklich das Allerletzte, was er brauchte. Seine Fingerknöchel
kribbelten erwartungsvoll. Lamb sprach weiter, war sich offenbar der Gefahr nicht bewusst, in der
er schwebte.
»Sie hat Sie also gefunden? Ihre Tochter, mein ich.«
»Was?«
Lamb lächelte. »Sie hatte erst hier angerufen, und man hat sie zu mir durchgestellt. Sie klang
etwas aufgeregt, deshalb hab ich ihr die Nummer vom Labor gegeben.«
»Oh.« Rebus merkte, wie er langsam Luft abließ. Er rang sich ein mürrisches Danke ab, und
diesmal gelang es ihm, an Lamb vorbeizukommen. Doch dann sprach Lamb erneut.
»Hörte sich ganz niedlich an. Ich hab sie gerne jung. Wie alt ist sie noch mal?«
Rebus' Ellbogen schoss nach hinten in Lambs ungeschützten Magen.
Der Stoß nahm Lamb den Atem, und er klappte abrupt nach vorn ein. Rebus betrachtete sein Werk;
nicht schlecht für einen alten Mann. Gar nicht schlecht.
Er ging weiter.
Weil er in einer privaten Angelegenheit unterwegs ist, stellt er sich vor die Wache und hält
Ausschau nach einem Taxi. Einer der uniformierten Beamten, der ihn von Sonntag kennt, von dem
Mordschauplatz, bietet ihm an, ihn mit dem Streifenwagen zu fahren, doch Rebus schüttelt den
Kopf.
Der Beamte sieht ihn an, als ob man ihn beleidigt hätte.
»Trotzdem vielen Dank«, sagt Rebus, bemüht, versöhnlich zu klingen.
Aber er hört sich einfach nur wütend an. Wütend auf Lamb, auf sich selbst, wütend auf den
Wolfsmann-Fall, wütend auf den verdammten Kenny Watkiss, wütend auf Flight, auf Lisa (warum
musste sie auch unbedingt in die Copperplate Street kommen?) und vor allem wütend auf London. Wo
sind all die Taxis, all die geldgierigen schwarzen Taxis, die wie Insekten herumflitzen, um
Fahrgäste aufzulesen? Er hat in dieser Woche Tausende davon gesehen, doch jetzt, wo er
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