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Wolfsmale

Titel: Wolfsmale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Rankin
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attraktive Frau, verrückt oder nicht. Und außerdem hatte er
sowieso nichts Besseres zu tun.
»Und weiter?«, sagte er.
»Ich würde gern versuchen, ein Profil von dem Wolfsmann zu erstellen.«
»Ein Profil?«
»Ein psychologisches Profil. So was wie ein Phantombild, nur dass man ein Bild von der Psyche
aufbaut und nicht vom Gesicht. Ich beschäftige mich seit einiger Zeit mit dem Thema Täterprofile
und glaube, dass ich Ihnen mit den entwickelten Kriterien helfen kann, eine klarere Vorstellung
von dem Mörder zu bekommen.« Sie hielt inne. »Was meinen Sie dazu?«
»Ich frage mich, was Sie davon haben, Dr. Frazer.«
»Vielleicht liegt mir ja nur das Allgemeinwohl am Herzen.« Sie blickte auf ihren Schoß und
lächelte. »Doch worum es mir tatsächlich geht, ist eine Bestätigung meiner Methoden. Bisher habe
ich nur mit alten Polizeifällen herumexperimentiert. Jetzt möchte ich mich einer echten
Herausforderung stellen.«
Rebus lehnte sich in seinem Stuhl zurück, nahm den Stift wieder in die Hand und tat so, als würde
er ihn betrachten. Als er aufblickte, sah er, dass sie ihn beobachtete. Nun ja, sie war ja
schließlich Psychologin. Er legte den Stift hin. »Das hier ist kein Spiel«, sagte er, »und wir
sind hier auch nicht im Hörsaal. Vier Frauen sind tot, ein Wahnsinniger läuft irgendwo frei
herum, und wir haben alle Hände voll zu tun, sämtlichen Hinweisen und falschen Spuren
nachzugehen, die wir haben. Warum sollten wir uns Zeit für Sie nehmen, Dr. Frazer?«
Auf ihren Wangen breitete sich ein tiefes Rot aus. Doch sie schien keine passende Antwort parat
zu haben. Rebus hatte seinen Worten nicht viel hinzuzufügen, also saß er ebenfalls schweigend da.
Er hatte einen sauren Geschmack im Mund, und seine Kehle war trocken und wie mit einer
Harzschicht überzogen. Wo blieb der Tee?
Schließlich antwortete sie. »Ich möchte doch nichts weiter, als das Material zu dem Fall
durchlesen.«
Rebus fand seinen Sarkasmus wieder. »Weiter nichts?« Er klopfte auf den Papierstapel im
Eingangskorb. »Dann ist es ja kein Problem, dazu brauchen Sie bloß ein paar Monate.« Sie
ignorierte seine Bemerkung, wühlte stattdessen in ihrer Aktentasche herum und zog schließlich
eine schmale orangefarbene Aktenmappe hervor.
»Hier«, sagte sie mit steinerner Miene. »Lesen Sie sich das doch bitte mal durch. Kostet Sie
höchstens zwanzig Minuten. Das ist so ein Profil. Ich hab es von einem amerikanischen
Serienkiller erstellt. Wenn Sie glauben, dass das nichts dazu beiträgt, den Mörder zu
identifizieren oder einzugrenzen, wo er als Nächstes zuschlagen könnte, okay, dann geh
ich.«
Rebus nahm die Akte. O Gott, dachte er, nicht noch mehr Psychologie!
Beziehungen herstellen... involvieren... motivieren. Er hatte seit dem
Management-Fortbildungskurs die Nase voll von Psychologie. Andererseits wollte er nicht, dass sie
ging. Er wollte nicht allein hier rumsitzen, während im Einsatzraum alle selbstgefällig über den
kleinen Scherz grinsten, den sie sich mit ihm erlaubt hatten. Er schlug die Aktenmappe auf, nahm
einen getippten und gebundenen Aufsatz von etwa fünfundzwanzig Seiten heraus und fing an zu
lesen. Sie saß da und beobachtete ihn; vielleicht wartete sie auf eine Frage. Rebus las mit
vorgestrecktem Kinn, damit sie nicht die schlaffen Falten an seinem Hals sah, und schob die
Schultern nach hinten, um das Beste aus seinem zugegebenermaßen nicht sehr muskulösen Brustkorb
zu machen. Er verfluchte seine Eltern dafür, dass sie ihn als Kind nicht ordentlich ernährt
hatten. Als junger Mensch war er immer sehr dünn gewesen, und als er schließlich anfing
zuzunehmen, geschah das an Bauch und Hintern, nicht an Brust und Armen.
Hintern. Brust. Arme. Er blickte starr auf die Wörter vor sich, war sich jedoch die ganze Zeit
ihres Körpers bewusst, den er über dem oberen Rand der Seite wahrnahm. Er kannte noch nicht mal
ihren Vornamen. Vielleicht würde er ihn nie erfahren. Er runzelte die Stirn, als wäre er tief in
Gedanken versunken, und las die erste Seite.
Bei Seite fünf war sein Interesse geweckt, und ab Seite zehn hatte er das Gefühl, dass vielleicht
doch etwas an der Sache dran war. Vieles war natürlich spekulativ. Sei ehrlich, John, fast alles
war reine Mutmaßung, doch es gab ein paar Punkte, an denen sie bemerkenswerte Schlussfolgerungen
zog. Er begriff, was da vorging. Ihr Verstand arbeitete auf einer anderen Umlaufbahn als der
eines Detective. Sie umkreisten jedoch dieselbe

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