Wolfsmale
Sonne, und ab und zu berührten sich die
Satelliten. Und was könnte es schon schaden, wenn man sie ein Profil von dem Wolfsmann erstellen
ließe? Schlimmstenfalls würde es in eine weitere Sackgasse führen. Bestenfalls hätte er ein
bisschen angenehme weibliche Gesellschaft während seines Aufenthalts in London. Ja, ein bisschen
angenehme weibliche Gesellschaft. Das erinnerte ihn daran, dass er seine Exfrau anrufen wollte,
um zu fragen, wann er sie besuchen könnte. Rasch überflog er die letzten Seiten.
»Na gut«, sagte er und schloss die Aktenmappe, »das ist alles sehr interessant.«
Sie schien sich zu freuen. »Und auch hilfreich?«
Er zögerte mit der Antwort. »Vielleicht.«
Sie wollte jedoch mehr von ihm hören als das. »Aber es würde sich doch lohnen, mir einen Versuch
an dem Wolfsmann zu gestatten?«
Er nickte langsam und nachdenklich, und ihr Gesicht leuchtete auf.
Unwillkürlich musste Rebus ihr Lächeln erwidern. Es klopfte an der Tür.
»Herein«, rief er.
Es war Flight. Er hielt ein Tablett in der Hand, das vor Tee schwamm.
»Ich glaube, Sie haben um was zu trinken gebeten«, sagte er. Dann entdeckte er Dr. Frazer, und
Rebus amüsierte sich über den fassungslosen Ausdruck auf seinem Gesicht.
»Ach du liebe Zeit«, sagte Flight und sah von der Frau zu Rebus und wieder zu der Frau, bevor ihm
klar wurde, dass er seinen spontanen Ausruf irgendwie rechtfertigen musste. »Man hat mir gesagt,
dass sie Besuch hätten, John, aber die haben nicht, ich meine, ich wusste nicht...« Leicht
stolpernd blieb er stehen, den Mund immer noch aufgerissen, und stellte das Tablett auf den
Schreibtisch, bevor er sich der Frau zuwandte. »Ich bin Inspector George Flight«, sagte er und
streckte eine Hand aus.
»Dr. Frazer«, antwortete sie. »Lisa Frazer.« Als ihre Hände sich trafen, blickte Flight aus den
Augenwinkeln zu Rebus. Und Rebus, der anfing, sich in der großen Stadt ein wenig heimischer zu
fühlen, antwortete mit einem langsamen, fröhlichen Zwinkern. »Ach du liebe Zeit.«
Sie ließ ihm zwei Bücher zum Lesen da. Eins, »Die Psyche des Serienkillers«, war eine Sammlung
von Aufsätzen von verschiedenen Wissenschaftlern, darunter einer mit dem Titel »Den Handel
besiegeln: mögliche Auslöser für das Verhalten von Serienkillern von Lisa Frazer, University of
London«. Lisa, ein schöner Name. Ihr Doktortitel wurde allerdings nicht genannt. Das andere war
ein härterer Brocken, dichte Prosa durchsetzt mit Tabellen, Schaubildern und Diagrammen. »Formen
des Massenmords« von Gerald Q. MacNaughtie.
MacUnanständig? Das musste doch wohl ein Scherz sein. Doch im Klappentext las Rebus, dass
Professor MacNaughtie von Geburt Kanadier war und an der University of Columbia unterrichtete. Er
konnte nirgends finden, wofür das Q stand. Den restlichen Tag im Büro verbrachte er damit, sich
durch die Bücher zu arbeiten. Dabei schenkte er die meiste Aufmerksamkeit dem Aufsatz von Lisa
Frazer (den er zweimal las) und dem Kapitel in MacNaughties Buch, das sich mit »Formen der
Verstümmelung« beschäftigte. Er trank Tee und Kaffee und zwei Dosen Orangenlimonade, aber der
saure Geschmack im Mund blieb, und während er immer weiter las, fing er an, sich körperlich
schmutzig zu fühlen, besudelt von all den Geschichten willkürlichen Horrors. Als er um Viertel
vor fünf aufstand, um zur Toilette zu gehen, hatten im Hauptbüro bereits alle Feierabend gemacht,
was Rebus jedoch kaum auffiel. Er war mit den Gedanken ganz woanders.
Flight, der ihn den größten Teil des Nachmittags sich selbst überlassen hatte, kam um sechs Uhr
ins Büro. »Wie wär's mit `nem Drink?« Rebus schüttelte den Kopf. Flight hockte sich auf die Kante
eines Stuhls. »Was ist los?«
Rebus wies mit einer Hand auf die Bücher. Flight betrachtete den Umschlag von einem. »Oh«, sagte
er, »nicht gerade als Bettlektüre geeignet, was?«
»Nicht so ganz. Es ist einfach... grauenhaft.«
Flight nickte. »Man muss da allerdings sachlich und nüchtern herangehen, John. Sonst kommen die
immer wieder ungeschoren davon. Wenn wir nur sagen, das ist furchtbar, und vor der Wahrheit die
Augen verschließen, dann können solche Typen ungestraft weiter morden. Und noch Schlimmeres
tun.«
Rebus blickte auf. »Was ist denn schlimmer als Mord?«
»Eine Menge Dinge. Zum Beispiel, wenn jemand ein sechsjähriges Kind foltert und vergewaltigt und
das Ganze filmt, um es Gleichgesinnten zeigen zu können.«
Rebus' Worte waren kaum hörbar.
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