Wolfsmondnacht (German Edition)
zurück, indem er ihn am Arm fasste.
»Ich verstehe, dass du dich verletzt fühlst. Es tut mir leid.«
»Dafür ist es zu spät, Antoine.« Jean-François streifte Antoines Hand ab.
»Du kannst mir nicht verzeihen?«
»Verzeihen? Einfach so? Nachdem du mich für fähig hieltest, Valerie zu ermorden, deine Schwester, die ich schätzte und verehrte?«
»Die Fakten sprachen gegen dich. Damals.«
»Fakten! Pah! Was zählte, war, dass du mir nicht vertraut hast. Wie soll ich dir noch vertrauen können?«
»Ich verstehe deinen Zorn, aber …«
»Ich bin nicht zornig, sondern enttäuscht und müde, unendlich müde, doch es treibt mich weiter. Ich will keine Leute um mich haben, die an mir zweifeln und die nicht zu mir stehen. Dafür ist das Leben zu kurz.« Er griff an seine Stirn. »Selbst wenn man ewig leben würde, wäre die Zeit zu kurz. Verstehst du das?«
» Oui . Als Kaufmann verstehe ich den Wert der Zeit sehr wohl. Sie ist das Wichtigste, was wir haben. Nach der Liebe.«
»Wie geht es Juliette?«
»Hervorragend. Sie gebar kürzlich unser zweites Kind. Leider wieder eine Tochter.«
Jean-François hob eine Augenbraue. »Leider?«
»Ich brauche einen Nachfolger für mein Geschäft. Auch an mir geht die Zeit nicht vorüber. Nur du scheinst dich kaum verändert zu haben.« Ein Anflug von Neid und Argwohn lag in Antoines Blick. Ahnte er, dass er nicht alterte? Dann war es Zeit, weiterzuziehen.
»Das liegt bei uns in der Familie. Meine Mutter alterte auch sehr langsam, was ihr aber nichts nutzte.«
»Sie ist schon tot?«
Jean-François sah ihn voll Erstaunen an. »Auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Hast du es damals denn nicht erfahren? Die halbe Stadt sprach davon.«
»Dann gehöre ich zur anderen Hälfte. Ich wusste es wirklich nicht. Es tut mir leid.«
»Es tut mir leid. Es tut mir leid. Wie oft höre ich diese Worte. Du kanntest meine Mutter nicht. Wie solltest du etwas über ihren Tod empfinden? Und wenn du sie gekannt hättest, würdest du ihr Ableben womöglich gar nicht bedauern. Warum diese Heuchelei überall, wohin man kommt?«
Antoine wich einen Schritt zurück. »Ich habe es nicht schlecht gemeint. Du bist wütend auf mich?«
» Non , ich bin nur etwas verstimmt und wieder mal desillusioniert.«
»Du willst also meine Freundschaft nicht mehr?«
Jean-François stieß ein bitteres Lachen aus. »Welche Freundschaft? Du hast mir nicht vertraut. Das ist beschämend genug nach all der Zeit.«
»Ich habe einen Fehler gemacht. Das gebe ich zu. Verzeihst du mir?«
»Womöglich, doch vergessen werde ich es nicht können. Das Vertrauen wird nie wieder dasselbe sein.«
»Merci.«
»Es gibt nichts zu danken.«
»Das war es dann wohl?«
»Für dich war es damals schon vorbei, als du mich des Mordes an deiner Schwester bezichtigt hattest. Au revoir .«
Antoine erwiderte den Abschiedsgruß. Jean-François sah ihm nach, wie er gesenkten Hauptes davonging. Fast tat er ihm ein wenig leid. Fast.
11. Oktober 1573
Schweißnass erwachte Céleste aus einem unruhigen Schlaf. Der Vollmond schien durch das Fenster hinein. Sein bleiches Licht erfüllte den Raum. Geisterlicht. Céleste erhob sich. Sie schrak zusammen, als die Haustür zufiel.
Camille schlug die Türen normalerweise niemals zu. Womöglich trug sie etwas und konnte die Tür nicht zuziehen, welche die Eigenart besaß, von selbst ins Schloss zu fallen. Doch nicht um diese Stunde. Camille ging früh zu Bett, um ebenso früh aufzustehen. Schon so lange, wie Céleste sie kannte. War jemand ins Haus eingedrungen?
Céleste zog ihre Schuhe an, warf ihren Radmantel über und suchte ihr Langmesser. Merde! Es war nicht da! Vermutlich hatte sie es unten gelassen. Sie griff nach ihrem Wasserkrug, der ebenfalls als Waffe dienlich war. Lautlos öffnete sie die Tür und schlich durch den Flur und die Treppe hinunter. Beim jedem Knarren der Treppe und jedem Ächzen des alten Holzes des Dachstuhls zuckte sie zusammen.
Was, wenn dort unten jemand lauerte und sie erwartete? Mit jedem Schritt nahm das ungute Gefühl in ihr zu. Sie umfasste den Griff des Kruges fester.
Endlich erreichte sie das Ende der Treppe. Düsternis umfing sie. Ein dumpfer Geruch drang in ihre Nase. Nur mit Mühe unterdrückte sie den Niesreiz, denn sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Langsam atmete sie durch den Mund.
Nichts schien ungewöhnlich zu sein. Kein Geräusch außer ihrem eigenen Atem durchbrach die Stille. Céleste glaubte, ihr Herzschlag sei so laut, dass es
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