Wolfsmondnacht (German Edition)
letzten Wünschen.«
»Dann durftest du die Truhe noch gar nicht zu mir bringen.«
Jean-François hob gleichgültig die Achseln. »Nur ein weiteres Verbrechen in einer Reihe von vielen.«
»Du kennst keine Skrupel.« Es klang eher nach einer Feststellung als einer Frage.
»Skrupel? Dafür habe ich zu lange mit Suzette zusammengelebt.«
»Trägst du die Truhe bitte in mein Zimmer?«
»Gewiss doch.«
Jean-François hob die Truhe an. Sie war sperrig und schwer, doch es gelang ihm, sie die Treppe hinauf und durch den Flur bis in Célestes Raum zu tragen. Dort stellte er sie gleich neben die Tür am Eingang ab. Schweratmend streckte er sein Kreuz und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Was hat Suzette darin für dich hinterlassen? Kohle?«
Céleste legte die Hände auf die Truhe. »Hast du den Schlüssel?«
»Welchen Schlüssel?«
»Na den für’s Truhenschloss.«
»Non. Vielleicht ist sie nicht abgeschlossen.«
Céleste versuchte, die Truhe zu öffnen. Vergebens. »Wie soll ich sie dann aufkriegen?«
Jean-François trat zu ihr und zog ihr eine Haarnadel aus ihrer Frisur, die daraufhin halb zusammenfiel.
»Was tust du da?« Céleste griff in ihre gelösten Locken.
»Ich dachte, du wolltest, dass ich das Schloss öffne?« Jean-François bog die Haarnadel und führte sie in das Schloss. Er rührte damit darin herum, bis er auf Widerstand stieß, drehte die Nadel herum und das Schloss war auf. »Voilà!«
Céleste runzelte die Stirn. »Ich frage jetzt besser nicht, warum du so schnell Schlösser knacken kannst.«
Jean-François schwieg lächelnd. Er trat beiseite, damit Céleste in die Truhe sehen konnte, spähte ihr jedoch über die Schulter.
»Kleider!« Céleste ließ ihre Fingerspitzen über die Stoffe gleiten. »Die müssen ein Vermögen gekostet haben«
Jean-François nickte.
Céleste wandte sich halb zu ihm um. »Sie hat sie nie getragen, nicht wahr?«
Jean-François schüttelte den Kopf. »Wie auch? In Paris ist es Huren verboten, Schmuck und kostbare Kleider zu tragen.«
»Warum hat sie sich dann solche Sachen gekauft?«
Er hob die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht plante sie, eines Tages ihr Geschäft aufzugeben, um eine respektable Bürgerin zu werden.«
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Hast du eine bessere Erklärung?«
»Nein.« Céleste deutete an den Truhenrand, wo sich ein zusammengeknülltes Stück Papier befand. »Was ist das? Ein Brief?« Céleste nahm es und entfaltete es. Ein Herrenring fiel aus dem Knäul zurück in die Truhe. Céleste hielt das Papier ins Licht. »Da steht tatsächlich etwas drauf.«
Jean-François erkannte Suzettes Handschrift, die ungelenk war, da selten benutzt. Ein Wunder, dass sie als Hure überhaupt schreiben konnte. Soweit Jean-François wusste, stammte sie aus einer Kaufmannsfamilie. Sein Urgroßvater baute sie auf, sein Großvater ruinierte sie.
Jean-François betrachtete das Papier. An einigen Stellen war die Tinte verwischt. Die Schrift war steiler und eckiger als sonst. Entweder war sie betrunken gewesen oder sie hatte diese Zeilen in größter Eile hinuntergeschrieben. Er vermutete beides. Da er seinen Namen in der Anrede erkannte, las er den Brief.
Ma chère Céleste, Jean-François,
ich bereue nichts. Nicht eine meiner Sünden. Auch jetzt nicht, wo ich dafür brennen werde.
Vor dem Feuer habe ich Angst, doch vor dem Tod nicht.
Die Kleider waren für eine bessere Zeit gedacht, eine Zeit, die niemals kommt. Lebt jetzt, meine Kinder, und nicht in einer Zukunft, die es nie geben wird. Hortet nichts, nehmt euch die Dinge, die euch wichtig sind sofort vor. Schiebt nichts auf, denn der Tod tut dies auch nicht.
Du warst stets mein Liebling, Céleste, mein Ebenbild. Glaube ihnen nicht, was sie dir gesagt haben. Ich hätte dich niemals ertränkt. Ich hätte es auch nicht mit dir, meinem Sohn, versucht, hätte ich gewusst, dass er dein Vater ist. Du würdest mir ohnehin nicht glauben, würde ich behaupten, dass es mir leidtäte. Also unterlasse ich diese Heuchelei. Ich kann dir den Namen deines Vaters nicht nennen, doch kann ich dir geben, was er mir als Faustpfand unserer Liebe überlassen hat. Seinen Ring. Halte ihn in Ehren, denn es wird das Einzige sein, was du jemals von deinem Vater haben wirst.
Von mir nehmt meinen letzten Gruß aus der Hölle.
Ich war nie gläubig, weder an Gott noch an die Menschen. Dafür habe ich zu viel gesehen und zu viel erlebt. Das Einzige, woran ich glaube, ist das Böse. Das bin ich und darum
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