Wolfsmondnacht (German Edition)
Rundumsicht besaß. Wer auch immer dort draußen war, konnte sich in einem toten Winkel oder in den Gebüschen verbergen.
Donatien ging zurück zum Tisch. Er nahm etwas von dem Papier, das er stets bei sich trug, um Aufzeichnungen zu machen, falls ihm plötzlich Ideen kamen. Er nahm einen der Grafitstäbe aus dem Döschen, in dem er sie aufbewahrte. In größter Eile schrieb er.
Ich war bei Gilles Garnier. Er ist der Kindermörder. Nehmt den Knochen als Beweis, falls ihr meine Leiche findet und ich nicht mehr als Zeuge aussagen kann. Ich fand diese Kinderknochen in seinem Haus, der Eremitage von Sr. Bonnot.
Gezeichnet am 1. Dezember im Jahre des Herrn 1574,
Donatien Raphaël Mortemard, Handwerkschirurg aus Paris
Er verstaute die Grafitstäbe wieder in der Tasche seines Wamses. Den Außenknöchel des Kindes wickelte er in das beschriftete Papier. Es erschien ihm wie sein Testament. Mit diesem Beweis war Gilles Garniers Schicksal besiegelt. Er würde den Knochen bei den Behörden abliefern - sofern er so lange überlebte. Die Vorahnung, ein ungnädiges Schicksal würde sich über ihn senken, ließ ihn nicht los.
Er dachte an Céleste. Sie war ihm wichtiger als die Lehre der Anatomie, selbst wichtiger als sein Leben. Diese Erkenntnis im Angesicht eines möglichen, ja sogar wahrscheinlichen Todes traf ihn wie ein Schock. Warum gerade jetzt? Warum war ihnen kein gemeinsames Glück beschieden?
Donatien durchsuchte den Rest des Hauses in der Hoffnung, die Knochen stammten vielleicht doch nicht von Jeanne. Die Hütte besaß zwei weitere Räume, von dem einer zum Schlafen benutzt wurde. Donatien rümpfte die Nase, denn es roch hier nach altem Schweiß, möglicherweise jenen scharfen Ausdünstungen, die mit übermäßigem Alkoholkonsum einhergingen.
Die Schlafstätte war zerwühlt. Sie bestand nur aus Strohmatratzen, die an mehreren Stellen aufgeplatzt waren und grauen Decken, die bereits bessere Zeiten gesehen haben mochten.
Donatien betrat die Küche, die in einem erbärmlichen Zustand war. Der Herd war von einem Fettfilm überzogen, an dem Staub klebte. Essenreste gammelten auf den Tellern, die jemand achtlos in eine Ecke gestellt hatte.
Zumindest waren hier keine Kinderknochen zu sehen. Es roch nach Schimmel und verdorbenen Lebensmitteln. Donatien verließ den Raum wieder, bevor der Brechreiz überhand nahm. Die Hand auf der Nase und mit gesenkten Kopf trat er zurück in den Hauptraum des Hauses.
Unter dem Tisch mit den Kinderknochen lag ein Stofffetzen. Donatien hob ihn auf. Er schien mit Gewalt irgendwo herausgerissen worden zu sein. Ein brauner Fleck, der aussah wie getrocknetes Blut, klebte daran. Stammte dieser Fetzen von Jeannes Kleidung? Er musste ihn Céleste zeigen, daher faltete er ihn zusammen und steckte ihn ein.
Donatien stellte sich vor die Haustür und lauschte hinaus. Kein Laut war zu hören. Dennoch blieb er auf der Hut. Womöglich hatte der Wind die Tür zugeschlagen. Er hoffte es, doch tief in ihm lag das Wissen um die bevorstehende Gefahr.
Donatien konnte nicht auf ewig im Haus bleiben. Er wollte nichts mehr, als diese Stätte des Grauens zu verlassen. Zugleich war es dies, was er am meisten fürchtete. Donatien trat hinaus. Ein Kribbeln lief über seinen Rücken. Irgendetwas war dort draußen in den dunklen Wäldern. Im undurchdringlichen Dickicht lauerte der Tod. Er wusste es einfach und bisher hatten ihn seine Instinkte noch nie getrogen.
Donatien umrundete das Haus. Unrat war überall, wohin er blickte. Er wandte sich ab, um den Weg zurückzugehen, den er gekommen war. Weit kam er nicht, da trat einige Meter vor ihm ein Mann aus dem Gebüsch. Mortemard erschrak.
Des Fremden Haut war bleich und aufgedunsen. Er wirkte kränklich. Mit schleppendem Gang kam er näher. Mit einer Hand strich er sich über den ergrauten, ungepflegt wirkenden Bart. Die andere Hand war in den Falten der Pluderhose verborgen. Schwach lächelnd blickte der Mann Donatien aus tief in den Höhlen liegenden Augen unter zusammengewachsenen Brauen an.
Waren zusammengewachsene Brauen nicht ein Zeichen, an dem man einen loup-garou erkennen konnte? Donatien schluckte. Er umfasste den Griff seines Macuahuitl fester, ließ jedoch den Blick nicht von dem Mann.
»Ihr seid Monsieur Garnier?«
»Was sucht Ihr hier?« Seine Stimme klang belegt, als würde sie selten benutzt.
»Ein Mädchen.«
»Hier ist kein Mädchen. Geht in die Stadt, dort gibt es genügend Weiber, mehr als ihr bezahlen könnt.« Garnier stieß ein
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