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Wolfsmondnacht (German Edition)

Wolfsmondnacht (German Edition)

Titel: Wolfsmondnacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amy Lynn Morgan
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sprichst davon, zu alt zu sein und keine Zeit zu haben. Non , Estelle, dies ist eine Lüge gegen sich selbst, dass man keine Zeit habe. Allein der Wille ist es, der entscheidet.«
    Sie sah ihn lange an. Wortlos. In ihrem Gesicht regte sich nichts, doch in ihren Augen erkannte er die Stürme, die in ihr tobten. Schließlich traten Tränen in ihre Augen, die zu viel gesehen hatten. Sie wischte sie weg mit einer Bewegung, die ihren aufkeimenden Willen verriet.
    »Du hast Recht«, sagte sie. »Es sind nicht Alter oder Zeit, die entscheiden. Ich werde mit dir kommen und lernen und das tun, was zu tun ist.«
    Lächelnd reichte er ihr die Hand. »Ich freue mich über deine Entscheidung.«
     
    Wochen später
    Jean-François lief neben Estelle durch sein kleines Lager im Haus in der Rue Mouffetard.
    »Das ist Seide aus Genua und Florenz«, sagte Jean-François.
    Estelle strich mit ihren Händen über die Seide. »Mir fällt kein Unterschied zur chinesischen Seide auf.« Sie verglich die verschiedenen Stoffballen.
    »Die Verarbeitung«, sagte Jean-François. »Sieh genauer hin. Erkennst du die Unebenheiten in der Seide aus Genua und Florenz, welche die chinesische nicht aufweist?«
    Estelle beugte sich dichter über die Seide. »Jetzt wo du es sagst. Ich bin doch schon alt und sehe schlecht.« Sie lachte rau.
    Jean-François trat näher zu ihr und nieste. »Was riecht hier so seltsam.«
    »Ich! Das ist mein neues Maiglöckchenduftwasser.«
    »Riecht wie die Bièvre, wenn die Färbereien und die Schlachtereien wieder ihre Abfälle hineinkippen.«
    Estelle sah ihn böse an. »Du bist heute wieder charmant. Du kannst einfach nicht mit Weibern umgehen.« Sie beugte sich über einen anderen Seidenballen, um auch diesen zu betrachten. »Ah, bevor ich es wieder vergesse: Deine Nachbarin war heute Nachmittag da und hat einen Ballen florentinischer Seide erworben.«
    »Du meinst Madame Mirabeau?« Jean-François trat vor eine Truhe, die in der Ecke stand.
    » Oui , so heißt sie. Sie ist Spinnerin. Wusstest du das? Fragte nach Charles, doch ich kenne keinen Charles.« Sie hob die Achseln.
    »Charles ist meine Katze.«
    Estelle starrte ihn an. »Das graue Katzenvieh, das tote Ratten auf deinen Schreibtisch legt?«
    »Die Rattenkadaver sind Liebesbeweise.«
    »Du bist schon etwas merkwürdig.« Estelle wandte sich kopfschüttelnd wieder ihrer Arbeit zu. »Von der rosafarbenen Seide gab es heute auch eine Bestellung. Von der Näherei in der Rue de la Lingerie.«
    Jean-François lächelte. »Ich scheine durchaus das richtige Händchen gehabt zu haben.« Er öffnete eine Truhe.
    Estelle spähte ihm über die Schulter. »Was hast du da?«
    »Meine Unterlagen ansehen.« Er starrte in die Truhe. Sie lagen nicht so, wie er sie üblich hineinlegte.
    »Hast du darin gewühlt?«, fragte er.
    Estelle sah ihn erschüttert an. »Du weißt, dass ich mich nicht an deinen Sachen vergreife.«
    »Jemand hat meine Geschäftsbücher durchgesehen.« Jean-François entging nicht, wie Estelle errötete.
    »Ich war es«, sagte sie leise.
    »Warum, Estelle? Warum?«
    »Ich musste doch wissen, wo wir stehen. Du hast immer noch Schulden. Bald geht auch dieses Geschäft die Bièvre runter.«
    »Estelle?«, fragte er gefährlich leise.
    Sie erschrak über seinen Tonfall. » Oui ?«
    »Du kannst nicht lesen.«
    »Ich … ich …«
    »Wem hast du die Unterlagen gezeigt?«
    Sie zögerte kurz. »Dem Priester. Er hat doch Schweigepflicht.«
    Jean-François beäugte sie misstrauisch. Konnte es sein, dass sie, die ihn aufgezogen hatte, ihn betrog? Sie war neben Céleste und Pamina die einzige Person, der er wirklich trauen konnte. Der Gedanke an Pamina schmerzte ihn. Noch immer war kein Brief von ihr eingetroffen, obwohl er ihr schon mehrere geschrieben hatte.
    »Dennoch hättest du es mir vorher sagen müssen, bevor du die Geschäftsbücher einem Fremden zeigst, sei es auch nur der Priester.«
    »Es tut mir leid. Es wird nicht mehr vorkommen.« Estelle sah aufrichtig betrübt aus.
    » Bon «, sagte er, »lass uns weitermachen. Es liegt noch viel Arbeit vor uns.« Er sah sie eindringlich an. »Und noch etwas: Du wirst das Lesen und Schreiben lernen. Das brauchst du im Geschäft. Zudem traue ich der Kirche am allerwenigsten.«
     
     

Kapitel 6
     
     
    Ein einziges Mal hatte Jean-François gesehen, dass Bluttrinker fliegen konnten. Amaël war auf diese Weise von ihm gegangen. Das Fliegen war ihm fremd, eine Fähigkeit, die ihn ängstigte. Der Mensch war kein Wesen der

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