Wolfsmondnacht (German Edition)
Lüfte, doch war der Bluttrinker es? Herrschte er in dieser Weise über die Elemente? War nur das Feuer das Einzige, was sich ihm entzog, indem es ihn zerstörte? Jean-François wollte es herausfinden in dieser monddunklen Nacht.
Er trat hinaus auf die Straße. Kein Mensch war in Sichtweite und er konnte um ein Vielfaches besser sehen als diese. Auch spürte er ihre Anwesenheit, ihre Gedanken und ihre individuelle Ausstrahlung, die einen jeden Menschen von seinem Nächsten unterschied.
Jean-François blendete all diese Wahrnehmungen aus, bis sie nur noch ein Hintergrundrauschen waren. Einzig auf seinen Leib konzentrierte er sich und auf den Wind und den unendlichen Raum, der ihn umgab. Die Sterne leuchteten auf ihn herab. Bei ihnen wollte er verweilen, unter dieser Decke aus Schwärze und kaltem Licht.
Fliegen wollte er, nichts als Fliegen. Zuerst tat sich nichts. Minutenlang stand er da und befürchtete schon, es würde ihm nicht gelingen, da fuhr plötzlich ein Ruck durch seinen Leib, gefolgt von einem feinen Rieseln, als löse er sich in Abertausende winzige Teilchen auf.
Dann fühlte er sich mit einem Mal leicht wie nie zuvor in seinem Leben. Er schwebte und konnte den Flug allein durch die Kraft seines Geistes steuern. Ein einziger Gedanke an das Firmament über ihn und er schoss in atemberaubender Geschwindigkeit hinauf, den Sternen entgegen.
Von dort oben, vom Wind der Höhe umgeben, der ihn an Haar und Gewand zog, sah er hinab auf Paris. Winzig wirkten die Häuser, dieses Geflecht aus Straßen und Plätzen und hohen Bauwerken, durch die sich die Seine schlängelte. Er erkannte die Bastille und die Überreste der alten Stadtmauern. Auch das Hôtel-Dieu erblickte er aus der Höhe, auf der Insel, eingebettet in die Arme des Flusses. Zuerst flog Jean-François nach Fontainebleau, das nicht allzu weit von Paris entfernt lag. Innerhalb eines Augenblicks legte er die Strecke zurück, die normalerweise eine Tagesreise zu Pferde wäre.
Jean-François jedoch zog es weiter gen Südwesten. Bald sah er Tours unter sich, begrenzt durch die Loire im Norden und die Cher im Süden. Er erkannte die Kathedrale Saint-Gatien mit ihrem dreischiffigen Kreuzgang im Norden. Selbst aus der Höhe erschien sie ihm wuchtig. Er flog darüber hinweg, um im Schatten eines Stadtpalais zu landen.
Tours war berühmt für seinen Chenin Blanc . Jean-François nahm sich vor, Handelsbeziehungen zu den hiesigen Winzern aufzunehmen. Die Flamme seines Durstes loderte empor, doch es war kein Wein, der diesen zu löschen vermochte.
Er nahm einen Mann in einer Gasse neben einer Abtei. Schwarzsamtene Dunkelheit umhüllte sie. Der Mann erbebte in seinen Armen, stemmte sich ein letztes Mal gegen den Tod und verlor. Kraftlos sank er in sich zusammen, als Jean-François ihn nicht mehr umfing. Stille umgab ihn, als der Herzschlag des Mannes erlosch. Nur die Kerzenlichter hinter den Fenstern zuckten noch.
Es war Zeit, um zurückzukehren. Abermals schwang Jean-François sich in die Lüfte und ritt den Wind. Unweit der Stelle, von der er sich in Paris erhoben hatte, ließ er sich nieder.
Der Flug saß noch in seinem Leib wie ein Rausch. Beschwingt lief er durch die Straßen. Die Rue Froit-Mantel war fast menschenleer. Es war nicht mehr weit. Wie langsam ihm das Laufen jetzt erschien, nachdem er das Fliegen kannte.
Jean-François hielt inne. Ein Mann stand dort auf der Straße, direkt vor dem ehemaligen Bordell. Er sah aus, als suche er jemanden.
»Monsieur Merdrignac?«, fragte der Fremde.
Jean-François sah ihn erstaunt an, trat jedoch aus Neugierde näher. Was sollte ihm ein Mensch schon anhaben können?
» Oui , der bin ich.«
» Bonsoir . Ich bin Monsieur Trébuchet.«
» Bonsoir , Monsieur Trébuchet.« Jean-François erinnerte sich an den Namen. Er hatte einen seiner Gläubiger vor sich.
»Ihr habt sicher meine Schreiben erhalten?«, fragte Monsieur Trébuchet. »Doch wollen wir das nicht auf der Straße besprechen.«
»Ah, gewiss nicht, Monsieur Trébuchet.« Jean-François öffnete die Tür und hielt sie für seinen Gläubiger auf. »Tretet ein.«
Abgestandene Luft kam ihnen entgegen. Das Büro des ehemaligen Bordells bestand noch, doch hatte es diese Bezeichnung nicht verdient. Es bestand aus einem ausgedienten Küchentisch und ein paar einfachen Stühlen. Ein Schreibschrank sorgte für Ordnung. Jean-François hatte sich stets vorgenommen, die Möbel gegen bessere auszutauschen, es jedoch aufgrund der angespannten finanziellen Lage
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