Wolfsmondnacht (German Edition)
ist keine Lüge oder würdet Ihr Euch als lebenden Menschen bezeichnen?«
Jean-François stand im Schatten des Torre di Piazza in Vicenza und beobachtete Alessio. Die mittelalterliche Turmuhr schlug zwei Uhr. Blut lief aus Alessios Mund und der Mann, dessen Leben zu Ende ging, sank nieder auf das Pflaster der Straße. Wenige Menschen waren zu dieser Stunde unterwegs, dennoch mussten sich die beiden Bluttrinker beeilen.
Alessio kam zu ihm. Jean-François reichte ihm sein Taschentuch.
»Wie fühlst du dich?« Inzwischen waren sie dazu übergegangen, sich zu duzen.
»Besser«, sagte Alessio. »Dieser quälende Durst ist gegangen.« Alessio tupfte sich das Blut von den Mundwinkeln. »Ich fühle mich euphorisch, gut wie nie zuvor, doch zugleich voller Zweifel und Gewissensbisse.«
Jean-François hob eine Augenbraue. »Das erstaunt mich, denn Mord ist dir nicht fremd.«
»Es ist eine Sache, Menschen zu töten, doch eine andere, ihr Blut zu trinken.«
»Es bleibt dir nichts anderes übrig, wenn du leben willst.«
»Keine Alternative?«
» Non .«
Alessio betrachtete das blutbefleckte Taschentuch. »Was ist mit Tierblut?«
»Es sättigt nicht. Ich habe es versucht. Glaube mir, das war eine Erfahrung, die ich nicht wiederholen möchte.«
»Erzähle mir davon, damit ich nicht den gleichen Fehler begehe.«
Jean-François zögerte kurz. »In Paris, wo ich damals wohnte, schlich ich mich in eine der Metzgereien an der Bièvre, um dort Blut zu stehlen. Es wurde mir davon übel. Ich führte es darauf zurück, dass das Blut bereits erkaltet und zu alt war. So fing ich Ratten und streunende Hunde. Keine Katzen, nein, Katzen hätte ich nicht töten können.« Der Gedanke an Belzébuth zerriss sein Herz. »Ich trank das Blut dieser Tiere. Zuerst hatte ich ein Sättigungsgefühl, doch es war trügerisch.« Er hielt inne, von Erinnerungen übermannt.
»Und dann?«
»An das, was danach geschah, kann ich mich nicht mehr erinnern. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, war ich besudelt vom Blut unzähliger Menschen. Sie lagen übel zugerichtet neben mit in der Dunkelheit der Pariser Steinbrüche. Ich habe sie nicht gebissen, sondern ihre Kehlen aufgerissen wie ein wildes Tier. Ich habe nicht getrunken, sondern mich geweidet. Meine Kleidung war zerfetzt, und was davon noch an mir hing, war durchtränkt von ihrem Blut. Niemals zuvor oder danach hatte ich so viele Morde innerhalb so kurzer Zeit begangen.« Er hob seinen Blick zu Alessio. »Darum sei gewarnt vor dem Blut der Tiere.«
Alessio nickte wortlos.
»Jetzt lasst uns nach Padua zurückkehren.«
Zeitgleich erhoben sie sich in die Lüfte, ließen sich vom Wind tragen und wussten ihn zu nutzen und zu lenken. In Padua vor Jean-François’ Haus ließen sie sich nieder.
»An das Fliegen werde ich mich nie gewöhnen. Es ist, als sei man der Wind selbst«, sagte Alessio.
»So ergeht es mir auch. Kommst du noch ein wenig mit rein?«
Alessio nickte. »Gerne.«
Jean-François schloss auf und ließ Alessio vorangehen.
»Soll ich ein Feuer machen?«, fragte Jean-François.
Alessio lächelte wehmütig. »Wärme, die nicht mehr für uns ist.«
Jean-François hob die Achseln. »Mag sein, dass wir der Wärme nicht mehr benötigen, doch ein Kaminfeuer hat etwas Gemütliches an sich.«
»Wohl wahr.« Alessio sah ihn ernst an. »Wer hat dich erschaffen?«
»Sein Name war Amaël.«
»War? Ist er tot?«
»Ich weiß es nicht. Er erschuf mich und verschwand. Seit jener Nacht habe ich ihn niemals wiedergesehen.«
»Das muss schwer für dich gewesen sein. Allein, allen Menschen fremd und niemanden zu haben, dem du vertrauen konntest. Die Ungewissheit, was mit dir geschehen ist und wie es weitergehen soll. Hast du etwas über unsere Art herausfinden können?«
»Nicht mehr, als du bereits weißt.«
Jean-François wandte sich um. Er legte Holzscheite in den Kamin und entzündete sie. Zuerst ein kleines Flackerlicht, fanden die Flammen Nahrung und züngelten empor.
»Warum hast du mich erschaffen?«
Jean-François sah ihn nachdenklich an. »Weil ich …« Ein Heulen hallte durch das Haus.
»Was ist das?« Alessio sprang auf.
Jean-François öffnete die Tür zum Flur. »Keine Sorge. Das ist nur mein Hausgeist.«
Das Heulen verebbte und wich vibrierender Stille.
»Du hast einen Hausgeist?«
»Du befindest dich im Spukhaus von Padua. Bienvenue! «
Alessio schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum hast du ausgerechnet ein Spukhaus gekauft?«
»Gefällt es dir nicht?«
»Es ist
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