Wolfspfade 6
vorüber war.
„Weshalb haben Sie angerufen?“, wechselte ich das Thema.
„Ich wollte mich vergewissern, dass Sie ein Zimmer gefunden haben. Mir ist letzte Nacht nicht in den Sinn gekommen, dass die Stadt ja völlig überlaufen ist.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht nachgedacht.“
„Was hätten Sie denn vorgeschlagen, wo ich wohnen soll?“
„Bei mir.“
Schweigen breitete sich aus. Eine matte Röte kroch seinen Hals hinauf. „Ich verfüge über ein Gästezimmer.“
„Das ist sehr nett von Ihnen“, stellte ich fest. „Aber Sie kennen mich doch gar nicht.“
„Ich habe Sie überprüft.“
„Ach?“ Das überraschte mich nicht. „Und was haben Sie entdeckt?“
„Sie sind exakt die, die sie zu sein behaupten. Sie halten unbeirrbar an ihrer Entschlossenheit fest, ihre Schwester zu finden. Keine dunklen Flecken in Ihrer Agenda. Sie würden einen guten Cop abgeben.“
„Danke.“ Von einem Mann wie ihm, der sich mit jeder Faser seines Seins seinem Beruf verschrieben zu haben schien, musste das das allerhöchste Lob sein. „Wie sind Sie in New Orleans gelandet?“
„Sie denken, dass ich nicht von hier stamme?“
„Genau das denke ich.“
„Was hat mich entlarvt?“
„Der fehlende Akzent?“
„Vielleicht habe ich ihn abgelegt.“
„Warum sollten Sie das tun? Bestimmt bekommen Sie jeden Tag Ihr Fett weg, weil Sie ein Yankee sind.“
Er zuckte mit den Achseln. „Als ich hier ankam, war es schlimmer als heute. Die Leute haben sich an mich gewöhnt.“
In dieser Stadt, die mehr als ihren gerechten Anteil an Polizeikorruption zu verbuchen hatte, musste Sullivan so etwas wie eine Ikone, wenn nicht gar eine Kuriosität sein. Während der Katrina-Katastrophe waren mindestens fünfzehn Prozent der Beamten des New Orleans Police Departments von ihren Posten desertiert, und eine ganze Reihe hatte man beim Plündern erwischt. Ich bezweifelte, dass Sullivan einer von ihnen gewesen war. Sicherlich waren all jene, die Aufrichtigkeit, Integrität und berufliche Hingabe zu schätzen wussten, in der Lage, über Sullivans Mangel an Südstaatencharme hinwegzusehen.
„Hatten Sie schon Gelegenheit, sich die Akte anzusehen?“, fragte er und lenkte das Thema damit geschickt von sich weg.
„Ja. Ist Ihnen hinsichtlich der Zeitpunkte, zu denen die Menschen verschwanden oder tot aufgefunden wurden, ein Muster aufgefallen?“
„Was meinen Sie mit Muster?“
„Ich habe die Daten anhand einer astrologischen Website abgeglichen.“
Er setzte sich gerade hin. „Und?“
„Bis vor sechs Monaten trug sich ein Großteil der Vermissten- und Todesfälle in New Orleans während einer Vollmondnacht zu.“
„Sie vermuten, dass wir es mit einem Werwolf zu tun haben?“
Ich schnappte nach Luft. „Was?“
„Vollmond. Menschen verschwinden oder sterben. Deutet das für Sie nicht auf einen Werwolf hin?“
„Dafür müsste ich schon Lon Chaney Junior sein. Sie glauben doch nicht ernsthaft an die Existenz von Werwölfen, oder?“
„Nein, aber möglicherweise gibt es da jemanden, der es tut.“
„Jemand, der sich selbst für einen Werwolf hält?“, folgerte ich.
„Es wäre doch nicht ausgeschlossen.“
Keine schlechte Theorie, allerdings –
„Das Vollmond-Muster bricht vor circa sechs Monaten ab.“
„Als Rodolfo in der Stadt auftaucht.“
„Richtig, nur dass der Vollmond-Wahnsinn da aufhört .“
Sullivan ließ ein Grunzen hören. „In dieser Gegend geht schon seit Langem irgendein seltsamer Mist vor sich. Habe ich Ihnen erzählt, dass es mehrere Todesfälle durch Tierattacken gab?“
„Mmhmm.“
„Nach allem, was ich herausgefunden habe, existieren schon seit mehr als hundert Jahren Gerüchte über Wölfe in der Stadt und ihrer Umgebung.“
„Hundert Jahre“, wiederholte ich dumpf.
„Die Wölfe, die gesichtet wurden, waren riesig – so groß wie Timberwölfe, und das, obwohl sich dieses Klima nicht für Timberwölfe eignet.“
„Natürlich tut es das nicht.“
Er bedachte mich mit einem raschen Blick. „Ich weihe Sie lediglich in das ein, was ich weiß.“
Ich winkte ab. „Fahren Sie fort.“ Auf ins Reich der Fantasie.
„Viele der früheren Augenzeugenberichte wurden der Sichtung von Rotwölfen zugeschrieben, die wir hier früher mal hatten, bevor man sie gegen 1980 als in freier Wildbahn ausgestorben deklarierte.“
„Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.“
„Irgendjemand musste es tun.“
„Wie steht es mit Kojoten?“
„Die gibt es noch. Man hat sie
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