Wolfspfade 6
Rising Moon für sich Werbung machte und die ich bei der Arbeit ausgab, wann immer mich jemand um Feuer bat; dann zündete ich eines der Hölzchen an.
Das Zischen klang überlaut in der schmalen Gasse, die plötzlich von dieser Welt weit entfernt zu sein schien. Das Glimmen war schwach, reichte aber aus, um das blutüberströmte Gesicht des Opfers zu beleuchten.
„Sullivan?“, wisperte ich.
21
Seine Augen waren geschlossen; er schien nicht zu atmen. Da war so viel Blut, dass ich die Quelle nicht ausmachen konnte. Nicht bei diesem Licht.
Ich beugte mich über ihn und glaubte, einen leisen Atemhauch über meine Wange streichen zu fühlen, als das Streichholz in meinen Fingern herunterbrannte und ich es fluchend fallen ließ.
Anstatt ein zweites anzuzünden, rutschte ich näher zu Sullivan, ohne mich um die Feuchtigkeit des Bodens unter mir oder den metallischen Blutgeruch, der mich einhüllte, zu kümmern. Ich legte die Handfläche auf seine Brust und schloss die Augen.
Ich hatte das Gefühl, ein zaghaftes Heben und Senken seines Brustkorbs zu spüren, war mir aber nicht ganz sicher. Ich strengte die Ohren an, um irgendetwas, ganz gleich was, zu hören, und dabei bemerkte ich ein leises Pfeifen.
Nun entzündete ich doch ein weiteres Streichholz, mit dem ich anschließend das ganze Briefchen ansteckte. Der helle Feuerschein offenbarte, was die einzelne kleine Flamme nicht hatte zeigen können.
Sullivans Kehle war eine einzige blutige Masse.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße“, murmelte ich, als ich das Zündholzbriefchen in eine feuchte Ecke warf, wo es zischend verglomm. Gleich darauf tippte ich hastig die Nummer der Polizei in mein Handy.
Die Verbindung war wegen der dicht stehenden Gebäude schlecht, aber ich wollte Sullivan nicht allein lassen. Also brüllte ich, um verstanden zu werden, und hielt dabei seine Hand.
„Verletzter Polizist!“ Das sollte sie eigentlich in Bewegung setzen.
Ich gab meinen Namen sowie meine Position durch und versprach, ihnen ein Zeichen zu geben, sobald ich ihr helles Blinklicht sah.
„Halte durch, Conner.“ Ich drückte seine Hand und erschrak fast zu Tode, als er den Druck erwiderte.
Er schlug die Augen auf, die viel zu hell schimmerten, wenn man die schlechten Lichtverhältnisse berücksichtigte. Das keuchende Pfeifen wurde lauter. Ich hatte das Bedürfnis, meine Hand auf seine klaffende Halswunde zu pressen, und dann auch wieder nicht. Er versuchte zu sprechen, hustete, und irgendetwas gurgelte.
„Nicht“, flehte ich ihn an. „Der Krankenwagen ist schon auf dem Weg.“
„Hast du es gesehen?“, brachte er mit Mühe heraus.
Fast hätte ich gefragt, was, aber ich wusste es bereits. „Du meinst den Wolf?“
Lächelnd schloss er die Augen. Ich fasste das als ein Ja auf.
„Augen.“ Das Wort war nicht mehr als ein leises, verzweifeltes Hauchen.
„Tun sie dir weh?“ Meine Finger flatterten über sein Gesicht.
Meine Erste-Hilfe-Kenntnisse beschränkten sich auf Herz-Lunge-Wiederbelebung, womit ich in Anbetracht der Größe seiner Halswunde jedoch keinem von uns einen Gefallen täte. Soweit ich wusste, kündigten Augenschmerzen den bevorstehenden Tod an.
„Nein.“ Er drückte meine Hand so fest, dass es beinahe schmerzte, und ich fasste neuen Mut. Sullivan war noch immer stark; er schien nicht schwächer zu werden. „Die des Wolfs.“
„Was ist mit ihnen?“
„Menschliche Augen.“ Er rang sich einen tiefen, stotternden Atemzug ab. „Werwolf.“
„Conner“, setzte ich an, ohne zu wissen, was ich danach sagen sollte.
Er öffnete seine eigenen Augen, und wieder schienen sie von einem inneren Licht erhellt zu werden. Er griff nach oben, bekam den Kragen meiner Bluse zu fassen und zog mich zu sich.
„Ich habe sie erkannt“, wisperte er so leise, dass ich die Worte nur deshalb verstand, weil sich unsere Nasen beinahe berührten.
„Du hast die Augen erkannt?“
Bestätigend schloss er seine.
„Wem gehörten sie?“
Er gab keine Antwort.
„Sullivan? Conner!“ Ich rüttelte ihn sanft, aber er hatte das Bewusstsein verloren.
In der Ferne kreischten Sirenen, die näher kamen und so laut waren, dass sie alles andere übertönten – die Menschenhorden, die Musik, jegliches Heulen, das vielleicht dort draußen in der Dunkelheit erklang.
Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, flutete silbernes Licht in die Gasse, und ich hob das Gesicht der heiteren Mondsichel entgegen, die inzwischen hoch genug stand, um über die uns umgebenden
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