Wolfspfade 6
Häuser zu blinzeln.
Ich hätte dankbar sein müssen für den hellen Schein; stattdessen überfiel mich ein Frösteln.
Die Polizei traf kurze Zeit später ein, gefolgt von einem Krankenwagen. Der Mond strahlte wie ein Leuchtfeuer vom Himmel. Die Sanitäter hielten direkt am Eingang der Gasse, dann rannten sie uns entgegen, ohne dass ich ihnen ein Zeichen geben musste.
Plötzlich wurden die Lichter zu hell, die Stimmen zu zahlreich. Am liebsten wäre ich in mein Zimmer zurückgekehrt und hätte mich dort verkrochen; ich war noch immer von oben bis unten mit Blut, Erde und den Cocktail-Resten dieses betrunkenen Typen besudelt.
Offensichtlich würde ich nun doch keine Gelegenheit bekommen, in seinen Drink zu spucken. Wäre ja auch zu schön gewesen.
Ich versuchte King anzurufen, um ihn zu informieren, dass ich nicht zur Arbeit würde erscheinen können, aber im Rising Moon nahm niemand ab. Eine kurze Weile später entdeckte ich ihn inmitten der Schaulustigen. Der Lärm und die Lichter mussten ihn nach draußen gelockt haben, allerdings fragte ich mich, wer sich nun um den Laden kümmerte.
Ich hob die Hand, und er gab mir mit einem knappen Nicken und einem finsteren, dem ganzen Aufruhr geltenden Blick zu verstehen, dass er begriff. Er war nicht glücklich darüber, allein arbeiten zu müssen, doch er akzeptierte es.
Ich hielt in der Menge nach John Ausschau, aber er war nirgends zu sehen. Vielleicht könnte er King zur Hand gehen, aber vermutlich überstieg das Servieren von Cocktails sogar seine spektakulären Fähigkeiten.
Die Rettungskräfte transportierten Sullivan so schnell wie möglich ab. Niemand wollte mir sagen, ob er überleben oder sterben würde; alle trugen grimmige Mienen zur Schau – besonders, als ich ihnen sagte, was ich gesehen hatte.
„Ein Wolf?“ Der Detective, der sich als Mueller vorgestellt hatte, schüttelte den Kopf. „Es gibt schon seit mehr als zwanzig Jahren keine Wölfe mehr in Louisiana.“
„Ja, ich weiß. Trotzdem treibt sich hier einer herum. Ein verflucht großer sogar.“
„Wie groß?“
„Um die hundertsiebzig Pfund.“
„Was Sie da sagen, ist unmöglich. Ein ausgewachsener männlicher Timberwolf würde in Alaska ein maximales Gewicht von einhundertzwanzig Pfund erreichen. In den anderen Staaten werden sie nicht schwerer als achtzig.“
„Für einen Polizeibeamten in einer Stadt, in der es keine Wölfe gibt, scheinen Sie aber ziemlich viel über sie zu wissen.“
„Es wurden immer wieder mal welche gesichtet. Dies ist New Orleans, und natürlich gehen bei uns laufend Meldungen über schwarze Panther, Leoparden, Wildschweine und Drachen ein, und in der Regel häufen die sich jedes Jahr um diese Zeit.“
„Wie das wohl kommt?“, murmelte ich, den Blick auf den Menschenstrom gerichtet, der trunken vorbeischwankte.
„Wir haben nie eins der Tiere gefunden.“
„Ich habe gehört, dass es vor etwa einem Jahr einen tollwütigen Wolf in den Sümpfen gegeben haben soll.“
Er zog die Brauen hoch. „Für einen Neuankömmling scheinen Sie aber ziemlich gut informiert zu sein.“
„Man wird nicht Privatdetektiv, weil einem die Arbeitskleidung gefällt.“ Wie auch immer die aussehen mochte. „Die meisten von uns ergreifen diesen Beruf, weil sie neugierig sind.“
„Sensationslüstern“, brummte er, und ich widersprach nicht. „Es wurde damals tatsächlich ein Wolf gesichtet. Powers hat daraufhin einen Jäger von außerhalb hinzugezogen.“
Das stimmte mit dem überein, was Sullivan gesagt hatte. Trotzdem machte ich mir über diesen Jäger von außerhalb langsam Gedanken. Wer war er? Was genau hatte er getan? Und wohin war er danach verschwunden?
„Meiner Theorie zufolge handelt es sich um Kojoten“, fuhr Mueller fort. „Stadtmenschen erkennen den Unterschied nicht. Jedes wilde Tier, das einem Hund ähnelt, ist für sie ein Wolf. Dass sich allerdings ein Kojote in die Stadt verirrt …“ Er schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen. Es könnte jedoch ein großer Hund oder ein Wolf-Hund-Hybride gewesen sein.“
„Selbst ein übergroßer Hund oder ein Wolf-Hund-Mischling würde keinen Mann von Sullivans Statur angreifen – es sei denn, er wäre lebensmüde“, gab ich zu bedenken. „Oder aber tollwütig.“
Mueller stutzte, dann kritzelte er etwas auf seinen Notizblock. Als er meine Neugier bemerkte, erklärte er: „Der Detective wird eine Injektion brauchen, falls sie das Tier nicht finden können.“
Ein Blick auf Sullivans Kehle hatte genügt, um
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