Wolfspfade 6
schon!“, brüllte Sullivan.
Der Wolf täuschte rechts an, und als Sullivan sein Gewicht entsprechend verlagerte, um die Attacke abzuwehren, schoss er plötzlich nach vorn und vergrub die Zähne in Sullivans Oberschenkel.
Vor Schmerz jaulend, hämmerte Sullivan mit den Fäusten auf den Kopf des Wolfs ein. Die Schläge schienen dem Tier nichts auszumachen; es ließ seine Zähne, wo sie waren.
Blut spritzte auf den Zementboden, wo es im Licht des Mondes schwarz schimmerte. Sullivan fiel auf die Knie, der Wolf gab ihn frei und ging steifbeinig auf Abstand, um sich für den finalen Angriff bereit zu machen.
Beim letzten Mal hatte ich ihn daran gehindert, die Sache zu Ende zu bringen. Dieses Mal war ich mir nicht mehr so sicher.
Der schwarze Wolf legte den Kopf schräg, so als ob er etwas gehört hätte. Er wandte sich von Sullivan ab, der unfähig schien, etwas anderes zu tun, als sich fluchend das Bein zu halten, und kam auf mich zu.
Ich wich vor ihm zurück, bis meine Schultern gegen die Wand stießen. Meine Augen trafen auf die des Wolfs – er hatte strahlend blaue, von Weiß umrahmte Iriden; menschliche Intelligenz in einem Wolfsgesicht. Doch was mich am meisten verstörte, war ihr Ausdruck. Die Augen dieses Wolfs waren nicht böse. Aber wie war das möglich?
Bevor ich mir länger das Hirn darüber zermartern konnte, wandte er sich ab und jagte mit langen, flinken Schritten auf Sullivan zu. Der Mann krümmte sich zusammen, um sich so klein wie möglich zu machen, was für jemanden von seiner Statur kein leichtes Unterfangen war. Der Wolf sprang mit einem einzigen Satz über ihn hinweg, kam kurz auf dem Boden auf, dann schoss er durch das, was von dem Fenster noch übrig war.
Eine Kaskade funkelnder Glasscherben regnete auf Sullivan herab. Fluchend stand er auf und schüttelte den Kopf, sodass die scharfen Splitter in alle Richtungen davonflogen.
Dann schweifte sein Blick zu mir, und die vorgetäuschte Unterwürfigkeit, die er dem schwarzen Wolf gegenüber zur Schau gestellt hatte, fiel von ihm ab. Sullivan schien vor meinen Augen größer, breiter und stärker zu werden.
„Wo waren wir noch mal stehen geblieben?“, fragte er und fasste an seinen Reißverschluss.
Ein dumpfes Geräusch durchdrang die Stille. Sullivan zuckte zusammen. Sein Wutgeheul ließ mich zurücktaumeln, als würde ein Orkan durch das Zimmer toben und mich gewaltsam mit sich fortreißen.
Seine Augen rollten nach hinten, dann brach er zusammen. Zwischen seinen Schulterblättern steckte etwas, das wie ein Betäubungspfeil aussah.
28
Ich starrte Sullivan an, der von Glasscherben und getrockneten Blutspritzern umrahmt, reglos auf dem Boden lag, dann richtete ich den Blick auf die schattenhafte Gestalt, die im Flur stand.
Ich wusste nicht, ob sich die Dinge zum Besseren oder Schlechteren gewendet hatten, bis sich der Schemen bewegte und im Mondlicht ein Piratenohrring aufblitzte.
„Sind Sie okay?“ Devon Murphy kniete sich neben Sullivan und checkte seinen Puls.
Absurderweise bemerkte ich als Erstes, dass er die Perlen aus seinen Haaren entfernt hatte, die Federn hingegen nicht.
„Anne?“ Murphy schnippte mit den Fingern unter meiner Nase. „Sind Sie verletzt?“
„Ihre Perlen“, war das Einzige, das ich herausbrachte.
„Sie stehen unter Schock“, murmelte er. „Das passiert jedes Mal.“
„Ich mochte diese Perlen. Wieso tragen Sie sie nicht mehr?“
„Ihr Klacken macht es schwierig, sich an Werwölfe ranzuschleichen.“
„Oh. Das leuchtet mir ein. Schleichen Sie sich denn oft an welche ran?“
„Öfter, als mir lieb ist.“ Er lehnte das Betäubungsgewehr gegen die Wand und zog sein T-Shirt über den Kopf. „Hier.“
Er warf mir das Kleidungsstück zu, aber es landete in meinem Gesicht und segelte zu Boden. Er seufzte. „Anne, ziehen Sie es an. Ich werde oben ohne weniger Aufmerksamkeit erregen als Sie.“
Da wurde mir endlich bewusst, dass ich ohne Oberteil im Mondlicht stand. Errötend bückte ich mich nach dem T-Shirt, während Murphy sich wieder Sullivan zuwandte.
„Ist er …“
„Völlig weggetreten?“ Er zog den Pfeil aus Sullivans Rücken. „Ja. Und er dürfte mehrere Stunden in diesem Zustand bleiben. Lange genug, um ihn in einen Käfig zu verfrachten.“
Meine grauen Zellen nahmen die Arbeit langsam wieder auf. „Woher wussten Sie, dass ich in Schwierigkeiten stecke?“
„Ich bin Ihnen gefolgt, seit Sie unseren Laden verlassen haben. Cassandra wollte Sie auf keinen Fall ungeschützt
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