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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Visionen so natürlich wie das Atmen, und ein Traum war so real, als wäre es bei hellem Tageslicht geschehen.
    Der tanzende alte Mann sang: »Dieses Kind wurde in einem fernen Land geboren und uns als Retter geschickt, um uns aus dieser dunklen Zeit zu führen.«
    Bei diesen Worten setzte sich Zeke auf. »Du irrst dich«, sagte er und vergaß in seiner Erregung vollkommen, Lakota zu sprechen. »Du hast zu viele Missionare gehört, alter Mann. Für die Indianer gibt es ganz bestimmt keinen Wolfsmessias. Die Zeiten sind dunkel, aber sie werden nicht heller.«
    Er unterbrach sich. Niemand hatte ihn verstanden. Sie beobachteten ihn schweigend, warteten vielleicht darauf, dass er fortfuhr. Der alte Mann hatte mitten im Wort abgebrochen, wartete das Ende des Einwurfs ab.
    Zeke sah ihm in die Augen. Vielleicht war es ein Spiel des Feuers und des Rauches, aber die Augen schienen gelb und geschlitzt wie die Augen eines wilden Tieres. Er hatte schon einmal solche Augen gesehen.
    Plötzlich sah er den Tag des Massakers vor sich. Der Todesrauch stieg aus dem Schneegestöber auf wie jetzt aus dem Kreis
des Lebens. Der Rauch würgte ihn, ließ seine Augen tränen. Der Junge verblutete im Schnee. Die alte Wölfin unter den Toten, die nahe am Himmel zur letzten Ruhe gebettet waren. Die Worte, die Scott ausgestoßen hatte: »Shungmanitu hemakiye.«
    »Ein Wolf hat zu mir gesprochen!« Das hatte der junge Harper damals gesagt - die rituellen Worte, die ausgesprochen wurden, wenn ein Lakota-Sioux von einer geistigen Wanderung zurückkehrte -, rituelle Worte, die jenen Tiergeist identifizierten, der ihn geführt hatte!
    Ja. Er hatte schon einmal solche Augen gesehen.
    Heute Nacht würde er Little Elk Woman fragen müssen, wie lange es noch bis Vollmond war.
     
    Am Abend feierten sie die Ankunft des Alten. Little Elk Woman saß neben ihrem Gatten, ein wenig abseits der Feier. Es gab kein Büffelfleisch, aber sie hatten sich inzwischen an das zähe, salzige Rindfleisch gewöhnt, das die Soldaten ihnen zur Verfügung stellten. Außerdem wurde gerade ein süßer junger Hund gekocht. Die Tänzer sangen im Rhythmus der dröhnenden Trommel - die Frauen schrill, die jungen Männer mit tiefer Stimme. Hatten nicht gute Nachrichten das Dorf erreicht? Aber ihr Gatte hatte kein einziges Wort gesprochen, seit er das Zelt des Häuptlings verlassen hatte. Es war fast, als läge ein Bann über ihm.
    »Ich weiß«, sagte sie und legte ihre Hand auf seinen Arm, »dass du früher ein Washichun warst. Obwohl du ihren Pfad verlassen hast und ein Mensch geworden bist, kannst du die Wege der Weißen Männer nicht ganz vergessen. Ich mache mir Sorgen um dich.« War es möglich, dass er wieder bei ihnen sein wollte? »Der Wichasha wakan sagt, dass die Washichun keine Seele haben, dass sie tot im Herzen sind. Heute sind wir alle glücklich, weil der alte Mann gekommen ist. Nur du bist traurig.«
    Vielleicht hatte es auch Vorteile, keine Seele zu besitzen; sie
wusste, dass die Washichun grausame, wütende und gnadenlose Krieger waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum ein Mann freiwillig den Weg der weißen Männer gehen wollte, aber selbst unter den Lakota gab es welche, deren Seelen man anscheinend gestohlen hatte; wie leicht konnte dann ein Mensch, der unter den Weißen gelebt hatte, in ihre Welt zurückgeholt werden? Sie fürchtete um ihn und konnte nicht aufhören zu sprechen, obwohl er sie gar nicht zu hören schien.
    Die Jungen rannten im Kreis um sie herum, heulten Kriegsschreie und bekämpften sich gegenseitig mit getrockneten Ästen. Der alte Wambliwashté kniete beim Feuer und erzählte Kriegsgeschichten. Little Elk Woman holte ein Stückchen Hund aus dem Kessel und brachte es ihrem Mann, der schweigend darauf herumkaute.
    Schließlich fragte er: »Wann ist Vollmond?«
    »Was für eine seltsame Frage«, antwortete sie. »In spätestens vier Tagen. Aber der Fremde wird das am allerbesten wissen. Er ist ein Shungmanitu und wird sich dann wahrscheinlich in einen Wolf verwandeln.«
    »Du glaubst wirklich daran, nicht wahr?«
    »Gibt es einen Grund, das nicht zu glauben?« Aber sie wusste, dass es einen gab. Die weißen Menschen hatten keine Träume und sahen nur die Oberfläche der Dinge. Sie waren ja selbst so.
    Aber er murmelte nur auf Englisch zu sich selbst: »Die Welt wird immer verrückter. Ein Wolfsmessias. Alte Männer verwandeln sich in Tiere.«
    Sie verstand nicht, was er sagte. Sie legte seinen Arm um sich, um ihm Trost zu spenden, aber

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