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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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musste die Leitwölfin sein, Natalia Petrowna Stravinskaya, die Geliebte des Leitwolfes - jene Frau, deren Platz im Bett des Grafen sie eingenommen hatte.

10
    Das Lakota-Gebiet
    Mond im zweiten Viertel
     
    »Ein alter Mann ist gekommen. Ein alter Shungmanitu ist gekommen und tanzt.«
    Little Elk Woman hörte die Stimmen, als sie und ihre Schwestern am Fluss waren und Felle gerbten, nicht weit von den Tipis entfernt, die ihr Dorf bildeten. Das Geschwätz ihrer Schwestern über ihre Männer ödete sie an; sie beschloss, ins Dorf zurückzugehen und dieses Wunder mit eigenen Augen anzusehen.
    Und dort stand er neben dem Feuer im Mittelpunkt des Dorfes, ein Mann, dessen wettergegerbtes Gesicht und graues Haar von hohem Alter kündeten und in dessen Augen das nicht ganz menschliche Feuer brannte, das die Shungmanitu angeblich von den Menschen unterschied. Die Kinder saßen bereits zu seinen Füßen und warteten auf neue Geschichten, die von Tapferkeit bei Jagd und Kampf kündeten. Sie stand abseits, empfand die seltsame Ausstrahlung des Fremden. Er tanzte im Licht der Dämmerung, seine bloßen Füße stampften mit einer Kraft auf den Boden, die sein Alter Lügen strafte, und von seinen Lippen stieg ein Wolfslied auf.
    Bald würde er in das Zelt eines Kriegers gebeten werden, und Frauen und Kinder waren von der Zeremonie der Pfeife ausgeschlossen. Sie wollte so viel hören wie möglich.
    Er tanzte, und sie kam näher. Sie konnte jetzt seine Worte verstehen, zwischen dem endlosen eya-eya des Refrains: »Ein Wolf wurde geboren. Ich frohlocke.«
    Aber warum war er in ihr Dorf gekommen? Die Kinder beobachteten ihn aufmerksam, reglos. Sie fragte sie nicht, denn sie schienen ganz und gar in eine andere Welt gezogen worden zu sein.

    Tanzend und seine Worte mit langem Schweigen und plötzlichem Heulen akzentuierend, erzählte der Alte: »Unter den Washichun habe ich einen jungen Wolf gesehen. Einen jungen Wolf, den jüngsten von ihnen, einer der ihren und doch nicht von ihnen. Hört mir zu! Ich habe weiße Wölfe unter den weißen Menschen gesehen, Wichasha Shungmanitu unter den Menschen mit den toten Augen, die auf dem eisernen Pfad über die Prärie reisen. Ich habe ihren Urin im Wind der Reise gewittert. Ich habe ihren heißen Atem gerochen. Niemand hätte geglaubt, dass das geschehen kann, aber ich habe es gesehen, ich, ein alter Mann der Shungmanitu, ich, dessen Mutter und Tante im Mond der Baumblüte starben, als sie den Platz für den Wintermond-Tanz suchten.«
    Zeke saß im Zelt und lauschte dem Gesang, aber die Worte ergaben für ihn keinen Sinn. Sein indianischer Freund saß vollkommen reglos und hörte dem alten Mann so aufmerksam zu, als wäre es ein Priester.
    Sie haben ihren Sonntagsstaat angelegt, dachte Zeke. Der alte Wambliwashté war sogar in seinem Kriegshemd gekommen, das mindestens fünfzig Jahre alt sein musste; die Fransen aus Feindeshaar waren zerrupft, und die Hälfte der Büffelknochen-Verzierungen fehlte. Jetzt saß er in ihrer Mitte, reichte die zeremonielle Pfeife mit den rituellen Worten Na und Ku weiter. Das Zelt war voller Rauch, der so übel stank, dass man kotzen könnte, wenn Kotzen bei einem so wichtigen Ereignis nicht als unverzeihliche Beleidigung gegolten hätte.
    Der Fremde erzählte weiter. Sein Tanz wurde wilder und seine Stimme zittriger. »Viele Monde bin ich auf dem Eisenroß geritten, denn die Weißen Männer haben mir das zum Geschenk gemacht, als ich ihnen gelobt habe, dass mein Stamm sich nicht erheben würde, wenn sie den eisernen Pfad bauen. Ich bin vorwärts- und rückwärtsgeritten und habe viele seltsame Dinge gesehen. Aber nichts war so seltsam wie der Junge, der zugleich Washichun und Shungmanitu ist. Ich sah ihn an, und
er erkannte mich. Und dann kamen viele Männer, griffen das Eisenross an und töteten die Menschen. Sie fingen den jungen Wolf und nahmen ihn mit sich.«
    Ein Zugüberfall offenbar, dachte Zeke. Und dabei haben die Leute so sehr gehofft, die Zivilisation würde endlich auch das Territorium erreichen.
    Er lehnte sich zurück und atmete den Rauch ein. Die Schwaden umschwebten ihn und füllten seine Lungen. Ein bitterer Rauch mit einer leichten Süße. Es war der Rauch der Träume, mit dem man ferne Dinge sehen konnte. Obwohl er ihn oft eingeatmet hatte, hatte er noch nie eine Vision gehabt. Der alte Wambliwashté dagegen saß mit geschlossenen Augen da, wiegte sich leicht. Vielleicht unterhielt er sich gerade mit einem Tiergeist. Für die Indianer waren

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