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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Szymanowski wurde noch einmal getroffen, und ein schwaches Quaken kam über
seine Lippen. Sanderson trat den Rückzug hinter die Kutsche an.
    Speranza lief zu von Bächl-Wölfling. »Tu etwas! Hilf Dr. Szymanowski!«, brüllte sie ihn an. »Du kannst doch nicht in aller Ruhe zusehen, während dein Vertrauter mit einem Pfeil im Hals …«
    »Ich kann nichts tun«, erwiderte von Bächl-Wölfling. Aus seinem Blick sprach unstillbare Trauer. Es war der gleiche Weltschmerz wie an jenem Abend vor so langer Zeit, im Zug nach Wien; seitdem hatte sie ihn nie mehr so hilflos gesehen.
    Ein Pfeil sirrte vorbei. Er bohrte sich vor ihren Füßen in den Gehsteig. Sie sah die halb im Holz vergrabene Spitze glänzen … Silber.
    »Sie wissen es«, hauchte sie.
    »Unsere uralten Feinde … die Menschen … haben uns wieder gefunden. Wie kurzlebig war doch unsere Hoffnung auf ein Utopia! O Speranza, ich verzweifle«, antwortete der Graf mit rauer Stimme.
    Szymanowski lag im Staub, zuckte wie in einem epileptischen Anfall. Immer mehr Pfeile durchbohrten ihn. Er wand sich wie ein Stachelschwein in der Falle. Seltsame Pfeifgeräusche entrangen sich seiner aufgeschlitzten Kehle.
    Endlich organisierten sich die Diener. Sie erwiderten das Feuer, nutzten die Wagen und die Kutsche als Deckung. Die Indianer tanzten auf einem Sims und ärgerten sie mit ihrem Kriegsschrei. Die Diener feuerten, aber die Indianer waren spurlos verschwunden. Plötzlich entdeckte Speranza Teddy und die beiden Weißen, die von Dach zu Dach sprangen; ein Indianer folgte ihnen. Die Diener hatten sie ebenfalls bemerkt und feuerten wieder. Speranza wusste nicht, für wen sie Partei ergreifen sollte. Aber sie wusste, dass Teddy Johnnys Freund gewesen war und dass er die nächtliche Attacke der Werwölfe auf das Indianerdorf miterlebt hatte. Sie wollte nicht, dass der Junge starb.

    Wieder Feuer. Der Rauch trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie war zu durcheinander, um Angst zu empfinden. Sie stand mitten in der Schusslinie, kreischte zu Teddy hinauf, er solle fliehen. Und Natalia stand neben ihr und kreischte Verwünschungen zu dem Mann hinauf, den sie Harper nannte.
    Plötzlich stürzte ein Mann vom Dach und prallte gegen einen Pfosten. Blut floss aus einer Wunde in seiner Brust.
    Sie hörte das entsetzte Heulen des Jungen: »Pa!«, und sie begriff, dass dies Teddys Vater sein musste, der Mann, den er so lange gesucht hatte.
    Getrappel auf dem Dach. Die Angreifer zogen ab. Die Schritte entfernten sich, immer weiter - dann hörte sie Wiehern.
    Die Zurückgebliebenen eilten wie aufgescheuchte Hühner hin und her. Speranza rannte zu Teddys Vater, der auf dem Gehsteig zusammengebrochen war. Niemand interessierte sich für ihn. Alle sammelten sich um Dr. Szymanowski und die toten Diener. Sie kniete neben dem Mann nieder, versuchte seine Wunden mit Stofffetzen aus ihrem Kleid zu verbinden, das Natalia zerrissen hatte.
    »Non, non!«, wehrte er sich mit schwacher Stimme, als sie sich über ihn beugte. Sie sah die Angst in seinen Augen. Er begann auf Französisch etwas über den loup garou zu murmeln. Er hielt sie für eine von ihnen!
    Leise antwortete Speranza: »Pas moi.« Und nahm sanft seine Hand.
    »Mein Sohn«, hauchte er.
    »Sie sind entkommen.«
    »Ich hätte nicht gedacht, dass er so … tapfer ist.« Sie glaubte, ihn lächeln zu sehen, bevor er starb. Überall war Blut - in ihrem Haar, an ihren Fingern. Zwei Diener hoben den Leichnam auf ihre Schultern und trugen ihn davon.
    »Nein!«, hielt sie die beiden auf.
    Sie spürte die Hand des Grafen auf ihrer Schulter. »Sie müssen
ihn wegbringen«, sagte er. »Wölfe mögen Aas, wusstest du das nicht? Er sollte nicht hier liegen bleiben; es würde dir nicht gefallen, sein Gesicht in Fetzen zu sehen.«
    »Dann begrabt ihn auf dem Friedhof - wie einen Menschen«, forderte Speranza.
    »Du verlangst viel. Sie haben uns den Krieg erklärt. Hast du Szymanowski gesehen?« Sie schüttelte den Kopf, aber dann schaute sie über den Platz und sah ihn auf einer Decke liegen. Es war, als hätte sich ein Wolf aus seinem Inneren freikämpfen wollen; Hautfetzen hingen lose von seinem Gesicht, und zwei steife Vorderpfoten brachen aus seinem Brustkorb, der blutig schwarz glänzte. Wolfskiefer bohrten sich durch seine Wangen. Der Bereich um seinen Kopf war mit grauem Hirngewebe übersät. Der Anblick übte eine morbide Faszination auf sie aus.
    Natalia weinte bitterlich über der Leiche, hob ihre Arme gen Himmel und stieß höchst

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