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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Bewusstsein auf. Noch einmal watete sie flussaufwärts auf ein Etwas zu, das vor Wut oder Ekstase heulte wie ein Liebhaber, wie ein allein gelassenes Kind. Aber nun konnte sie zum ersten Mal die Quelle des Flusses erkennen. Auf einer Hügelkuppe
stand ein gekreuzigtes Wolfskind. Blut sprudelte aus seinen Händen und vereinigte sich zu dem Fluss, der durch den düsteren Wald strömte.
    »Johnny!«, schrie sie auf. Und dachte: Ich habe ihn betrogen, ich habe ihn sterben lassen, und jetzt wächst ein neues Kind in mir, aus dem der Graf machen wird, was er nicht aus Johnny Kindred machen konnte.
    Sie öffnete die Augen und sah ihr ernstes Gesicht in Stein gemeißelt und den Welpen, den sie säugte.
    Ein langer Schatten glitt über das Gesicht der Madonna.
    Sie drehte sich um. Es war der Graf. Leise sagte er: »Ich habe es vor unserer Abreise in Wien machen lassen.«
    »Du wusstest, dass ich mit dir … du hast die Frechheit besessen zu glauben, du hättest mich so in der Gewalt, dass du …«
    »Leugnest du es, meine Madonna?«
    Und er kam näher. Und näher.
    Wie hatte sie sich diesem Mann so ausliefern können? Ich bin hierhergekommen, weil ich Johnny beschützen, nicht weil ich Teil dieser blasphemischen Familie werden wollte.
    Und er kam näher. Sein moschushafter Duft erreichte sie. Sie wich nicht zurück.
     
    Sie fanden Grumiaux im Schlamm unter den Pappeln und begruben ihn mühsam, indem sie die Erde mit ihren Gewehrläufen wegräumten. Sie legten zwei gekreuzte Silberpfeile über seine Brust, damit die Wölfe sein Grab nicht aufwühlten.
    Sanderson ist mit ihnen verbündet, dachte Scott. Er will, dass die Wölfe sich bekämpfen, ihm ist alles recht, was die Indianer dezimiert. Er ist nicht nur ihr Verbündeter, irgendwie besitzen sie ihn.
    Und sie besitzen mich auch, entsann er sich. Er schmeckte noch das bittere Wasser aus Natalias Pfotenabdrücken. Aber ich werde sie bis auf den Tod bekämpfen. Ich werde ganz bestimmt nicht zum Werwolf!

    Aber er wusste, dass er in jenem Augenblick, als Natalia ihn auf dem Dach erkannt und ihn beim Namen gerufen hatte, beinahe nachgegeben hätte -
     
    »Johnny«, murmelte Speranza. »Ich muss ihn finden, ihn umsorgen, ihm meine Liebe geben …« Aber als sie die Augen schloss, sah sie wieder den gekreuzigten Wolfsjungen vor sich, und sie dachte: Er ist tot, er ist so gut wie tot, er ist nicht mehr als Hartmuts gescheitertes Experiment, und ich werde sein nächstes Experiment.
    »Ich liebe dich«, sagte der Graf von Bächl-Wölfling. Und er kam näher -
     
    »Adieu, Pa«, schluchzte Teddy. Und drehte der Stadt Winter Eyes den Rücken zu, den Kopf voller Rachepläne.
     
    - und näher.

Dritter Teil
    DER KRIEG DER WÖLFE

1
    1963: South Dakota
    Zunehmender Mond
     
    In den Dakotas dauert der Winter fast ewig; der Frühling ist wie ein kurzer Traum; der Sommer kommt kurz und plötzlich. Wie Dr. La Loge mir immer wieder erklärte: »Es gibt hier nur zwei Jahreszeiten … Winter und August.«
    Den ganzen Frühling über suchte ich nach der Madonna, die in Johnnys Geschichte ein so wichtiges Symbol darstellte. Ich wühlte auf Dachböden und in den Kellern des Szymanowski-Instituts. Es gab eine ganze Geisterstadt zu durchsuchen. Aber nichts, was einer Madonnenstatue geähnelt hätte. Anfangs hoffte ich, dass dieser Fund Johnnys Geschichte endlich erhärten würde; aber ich fand nichts.
    Und eines Tages, im Hochsommer, als Preston Bluefeather Grumiaux wieder im Szymanowski-Institut auftauchte -
    So als wäre gar nichts geschehen. Kein blutiger Mord, keine Kastration, keine geisterhafte Erscheinung im Bahnhof von Omaha. Er betrat einfach eines Morgens den Speisesaal, als J.K. in seiner James-Karney-Rolle mir Schinken und Ei servierte.
    James Karney wurde böse. Er verschüttete Kaffee auf das Tischtuch. Ich war wie erstarrt, als ich Preston stehen sah. J. K. knurrte, fletschte die Zähne - und nässte sich vor Wut in die Hose.
    »Hallo, Carrie«, begrüßte mich Preston zuckersüß.
    »Preston … du bist … du bist …«
    »Tot? Ein Geist?«, nahm er mir das Wort aus dem Mund. »Aber so was passiert euch Weißen ja nicht.« Er schien wirklich verwirrt zu sein. »Ich war ziemlich lange weg, wie? Mit euren Maßstäben. Aber ich war auf einer Traumwanderung. Es ist Sommer. Zeit, einen Sonnentanz darzubringen.«

    J. K. umkreiste den Tisch, geduckt, leise knurrend. Ich wollte verhindern, dass er sich aufregte, deshalb läutete ich nach einem Pfleger, der ihn in sein Zimmer bringen

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