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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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ungewöhnliche Trauerbekundungen aus. Vishnevsky stand mit unbeteiligter Miene neben ihr.
    »Er war wie ein Vater für uns alle«, sagte Hartmut. »Ich habe mir nie vorstellen können, dass er stirbt …« Als er wieder auf die Diener schaute, die Grumiaux’ Leiche forttrugen, packte er Speranza so fest an der Schulter, dass sie vor Schmerz zusammenzuckte, und sagte: »Und du willst dem da ein anständiges christliches Begräbnis zukommen lassen! Wenn er unser Feind ist, dann hat er uns den Krieg erklärt! Wir können niemals mit ihnen koexistieren, Speranza, das musst du begreifen, wenn du eine von uns wirst! Wir sind die Jäger, sie sind die Beute!«
    »Und ich bin also auch Beute, nehme ich an?«, fragte Speranza bitter.
    »Du musst dich für eine Seite entscheiden, Speranza. Vor allem, wenn du mein Kind tragen wirst.«
    Er schwieg. Speranza rief aus: »Dein Kind! Nein, Hartmut, das kann ich nicht … Ich habe Natalia Petrowna gesagt, dass ich nicht ihre Rivalin bin, dass ich zurück will nach Aix-en-Provence …«

    »Ich brauche eine Königin, Speranza.«
    »Ich werde niemals so wie ihr!«
    »Ich könnte deinen Gehorsam erzwingen«, sagte der Graf, und Speranza ahnte, dass er mit dem Gedanken spielte, sie den Tau aus seinen Fußstapfen trinken zu lassen. »Aber es wäre mir lieber, wenn … deine Liebe zu mir wachsen würde. Ich glaube nicht, dass du mich abstoßend findest.« Speranza konnte das kaum abstreiten. »Mein Kind, im Tumult aufgewachsen, wurde mir von Werwölfen genommen, die unter den Wilden hausen. Ich habe gehofft, dass dieses Kind, halb Mensch, halb Tier, die Rettung für uns alle sein könnte. Sage nicht, dass du kein Kind tragen kannst. Du hast keine Wahl; die Saat ist bereits ausgebracht.«
    Er ließ ihre Schulter los und verschwand in dem Saloon, aus dem immer noch seelenloses Klaviergeklimper ertönte.
     
    Von der Hügelkuppe blickten sie auf die Stadt hinunter. Die Sonne ging unter. Die beiden Indianer, die sie begleitet hatten, rösteten eine Hirschkeule über einem Feuer.
    Teddy Grumiaux saß bis zum Hals im hohen Gras und tat etwas, das Scott ihn noch nie hatte tun sehen - er heulte wie ein Schlosshund. Es war Zeit zu trauern, dachte Scott. Das Kind hatte sich lang genug wie ein Mann benommen. Wie der Indianerjunge, der Sanderson noch skalpiert hatte, obwohl er selbst schon tödlich verwundet war. Scott ließ den Jungen in Ruhe, bis die Sonne beinahe hinter den Hügeln im Westen verschwunden war; dann brachte er ihm kalten Kaffee in einem Zinnbecher und ein Stück angekokeltes Fleisch, das er in seinem Taschentuch transportierte.
    »Wir müssen bald zurück«, sagte Scott.
    »Ich gehe nicht ohne meinen Pa.«
    »Was? Willst du etwa in die Stadt schleichen und seine Leiche stehlen? Du musst …«
    »Nein. Ich schätze, sie tragen ihn in den Wald. Damit sie ihn
beim nächsten Vollmond ausgraben können. Wölfe lieben Aas.« Er sprach ohne jedes Gefühl; seine Tränen waren längst eingetrocknet. »Da, schau!« Er deutete auf etwas. Scott kniff die Augen zusammen und sah zwei winzige Punkte, die aus der Stadt herauskamen. »Sie gehören zum Grafen. Wir können bald runter und uns um die Leiche von meinem Pa kümmern. Ein Gebet sagen oder so. Du sagst das Gebet, Scott; ich kenn’ keins.«
     
    Sie stellten eine Statue auf dem Platz auf. Die Werwölfe waren alle auf Szymanowskis Beerdigung, und Speranza blieb allein zurück; sie stand vor dem Saloon und schaute den Arbeitern zu. Sie konnte den Trauergesang vom Friedhof hören. Manchmal klang er wie ein Lied, dann wieder wie das Heulen einsamer Wölfe.
    Sie ging auf den Platz. Die Statue war mit einem Leintuch abgedeckt. Ganz bestimmt würde es eine Einweihungszeremonie geben. Aber Speranza glaubte, die Steinmadonna mit dem Wolfswelpen in den Armen aus dem Park in Wien wiederzuerkennen.
    Die Sonne ging unter. Die Arbeiter waren wieder verschwunden, und Speranza spürte ein unwiderstehliches Verlangen, den Schleier der Statue zu lüften. Sie berührte das Leintuch. Hob es an einem Zipfel an. Das Gesicht der Madonna starrte sie an. Es war anders als in ihrer Erinnerung. Es schien ihr eigenes zu sein, auch wenn sie sich nicht als so schön empfand; als hätte ein Künstler ihr Antlitz idealisiert. Ihr Blick war gesenkt, bescheiden; im Licht der untergehenden Sonne schienen die Wangen in jugendlicher Blüte zu stehen, und die Lippen versprachen eine leise Andeutung von Sinnlichkeit.
    Sie schloss die Augen. Der Traum stieg wieder in ihr

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