Wolfsruf
sollte.
»Johnny«, sagte ich, »wenn du da bist, wenn du mich hören kannst … ich komme später zu dir, das verspreche ich dir, und höre mir weiter deine Geschichte an.« Dann führten sie ihn weg. Preston zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber.
Er schaute mir beim Essen zu, eindringlich, nervtötend.
»Ein Sonnentanz?«, fragte ich schließlich.
»Eine ganz eigene Art, sich die Brustwarzen durchstechen zu lassen«, antwortete er. »Willst du mitkommen?«
Ich schaute auf. Sein Blick verriet seine Verletzlichkeit. Er wollte das wirklich mit mir teilen. »Klar«, sagte ich.
Das war für mehrere Wochen das letzte Mal, dass ich ihn sah. Und Johnny Kindred zog sich zurück, sprach manchmal tagelang nicht mit mir. Dr. La Loge war immer beschäftigt. Die Fortsetzung der Geschichte würde ich Johnny wohl irgendwie entlocken müssen. Wir hatten einen entscheidenden Punkt in der Erzählung des jungen Werwolfs erreicht; und so wie mich die Angestellten mieden, begann ich zu glauben, dass ich nicht mehr allzu willkommen war - hatte das alles etwas mit dem Wiederauftauchen von Preston Bluefeather Grumiaux zu tun?
Fast jeden Morgen fand ich eine Notiz von Dr. La Loge vor, dass Johnny unpässlich sei oder dass der Doktor selbst leider keine Zeit für mich habe. Und als ich eines Morgens meine Schlafzimmertür aufmachte, rutschte ich aus und landete in einer Urinlache. Sollte ich zum Streitknochen zwischen Johnnywolf und Prestonwolf werden? Darüber wollte ich lieber erst gar nicht nachdenken.
Ich entschied, dass es an der Zeit war, wieder einmal wegzugehen. Ich war ab und zu in Deadwood gewesen, auf der Suche nach Informationen, die Johnnys Geschichte erhärteten. Ich
hatte nie etwas zutage gefördert, höchstens festgestellt, dass er die Straßennamen größtenteils korrekt wiedergegeben hatte - es gab keine Abweichungen, die man nicht dem nachlassenden Gedächtnis eines alten Mannes zuschreiben konnte. Zum Beispiel schien der Mount-Moriah-Friedhof in Deadwood nicht so nahe bei der Kirche zu liegen wie von Johnny beschrieben - aber vielleicht gab es früher noch mehr Friedhöfe, oder seine Erinnerung trog ihn in dieser Hinsicht. Jedenfalls beeinträchtigten solche Details nicht die Eindringlichkeit und Glaubwürdigkeit seiner Erzählung.
Und dennoch gab es - wie schon erwähnt - auch nie einen konkreten Beweis. Mir wurde klar, dass ich zu versessen darauf war, ihm zu glauben, dass ich kurz davor stand, ihm die ganze Geschichte mit allem Drum und Dran abzukaufen. Aber gerade als ich alles zur »Wilden Fantasie eines Wahnsinnigen« erklären wollte, erhielt ich einen Hinweis. Es war verlockend, er bestätigte lediglich die Existenz einer winzigen Nebenfigur in Johnnys Geschichte, aber er hielt mich davon ab, aufzugeben. Ich fand ihn, als ich wieder nach Deadwood fuhr.
Deadwood im Sommer ist eine Touristenstadt: an der Hauptstraße reihen sich die Andenkenshops aneinander, die Wild-Bill-Hickock-Statuen aus Hongkong, Indianerteppiche aus Taiwan, und natürlich Tassen, T-Shirts, Aufkleber verscherbeln. Es gibt ein Wachsmuseum, ein nachgebautes Lakota-Dorf und als Krönung des Ganzen eine szenische Darstellung des Verfahrens gegen Wild Bills Mörder Jack McCall - so lebensecht wie eine Schulaufführung und erträglich nur dank der Beflissenheit der Amateurschauspieler. Ich ließ das Stück an vier aufeinanderfolgenden Abenden über mich ergehen und verbrachte die Nächte in einem edlen viktorianischen Hotel, nachdem ich mir von meinen geplagten Eltern Geld anweisen hatte lassen. Tagsüber fiel ich den Rathausangestellten auf die Nerven, indem ich ständig in alten Zeitungen blätterte.
Eine Menge Hobby-Historiker betrieben hier ihre Nachforschungen
- durchweg pfeiferauchende Tweedjackettträger, so hatte es den Anschein. Ich glaube, sie nahmen mich gar nicht wahr, höchstens wenn sie sich fragten, warum ich ihnen eigentlich keinen Kaffee servierte. Ich durchforstete alte Akten, in der Hoffnung, irgendwo auf den Namen von Bächl-Wölfling zu stoßen. Ich hatte seinetwegen sogar einem österreichischen Genealogen geschrieben, der mir aber nicht geantwortet hatte. Wahrscheinlich hielt er mich für einen dieser Publicity - besessenen Amerikaner, der ihm seinen Rang streitig machen wollte.
Eines Tages jedoch, als ich gelangweilt in einem brüchigen, ledergebundenen Jahresband von Graham’s Magazine blätterte - einer Art Reader’s Digest des neunzehnten Jahrhunderts -, stieß ich auf einen Artikel über
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