Wolfsruf
etwas, und überall glänzte frische Farbe. Die Gebäude waren wie leere Hüllen, Winter Eyes nur ein potemkinsches Dorf. Aus dem Saloon ertönte Klaviergeklimper, aber keine Stimmen. Vielleicht war es eines dieser beliebten modernen Pianos, die keinen Spieler mehr brauchten.
Auch Dr. Szymanowski hatte man ein Gebäude errichtet, in dem er seine Studien fortsetzen konnte - allerdings ein gutes Stück außerhalb des Ortes, denn darauf hatte der Wissenschaftler Wert gelegt.
»Madam«, sagte der Offizier und verbeugte sich tief vor dem Grafen und seiner Mätresse. Und Speranza erkannte an seinem speichelleckerischen Benehmen, dass er bereits ein Sklave der Werwölfe war - dass er sich innerlich bereits mit dem Mal der Dienerschaft hatte brandmarken lassen.
Natalia sagte zu dem Grafen, Speranza absichtlich ignorierend: »Dies ist Major Sanderson, Hartmut. Er ist Kommandeur von Fort Cassandra, und er hat sich uns als sehr nützlich erwiesen. Es gelang mir, ihn … in meinen Bann zu ziehen. Er wird uns helfen, Neugierige von Winter Eyes fernzuhalten, und er wird uns darüber informieren, wo sich die Indianer gerade aufhalten.«
»Alles, was den wilden Sioux ihren Platz zuweist, Eure Exzellenz, ist zu begrüßen«, ereiferte sich Major Sanderson. »Man sollte sie wie Ungeziefer ausrotten, aber mir sind die Hände durch die neuen Verträge gebunden.«
»Es freut mich«, bedankte sich der Graf, »dass wir auf diese Weise einander helfen können.«
Weitere Höflichkeiten wurden ausgetauscht. Speranza ließ sich ablenken. Das Klavier spielte immer noch, vollkommen gleichmäßig und unberührt von all dem Treiben. Sie war jetzt überzeugt, dass es automatisch betrieben wurde. Sie stieg auf den überdachten Gehsteig und warf einen Blick in den Saloon. Niemand war drin.
Sie ging weiter, ohne sich um die Diener zu kümmern, die die Wagen entluden und die Vorräte auf die verschiedenen Häuser verteilten. Hinter der Kirche, hügelaufwärts, standen die Wohnhäuser für die Mitglieder des Lykanthropenvereins. Sie waren identisch bis auf eines, das größer war und höher stand, mit griechischen Säulen vor der Veranda und Buntglas in den Fenstern des oberen Stockwerks. Sie spazierte durch den Kirchhof. Weihrauch wehte aus der offenen Tür; Pater Alexandros war bereits bei der Arbeit. Als sie den Vorraum betrat, erkannte sie, dass sich ein Friedhof an die Kirche anschloss, aber sie glaubte nicht, dass dort jemand lag; die Grabsteine dienten dazu, das Bild authentischer zu machen, wie Adams Nabel.
»Es überrascht Sie, dass wir hier eine Kirche haben?« Sie drehte sich um und sah Natalia Petrowna auf sich zukommen. Der Umhang aus schwarzem Samt und rotem Satin wehte hinter ihr im Wind, und eine Hermelinstola verdeckte ihre Wange. »Das sollte es nicht. Sie glauben vielleicht, dass wir Kinder des Satans sind, keine Reliquien berühren, keine heilige Kommunion nehmen können. Ach, wir hängen so an der Vergangenheit, an vertrauten Dingen.« Sie lachte. »Schließlich waren wir alle einmal Menschen. Bis etwas - jemand - das Tier in uns geweckt hat.«
»Sind Sie gekommen, um mit mir zu kämpfen?«, fragte Speranza.
»Hier? Jetzt? Können Sie es nicht mehr erwarten, Königin zu werden?«
Speranza dachte an Johnny Kindred, der von den Wilden entführt worden war, vielleicht für immer. »Wofür sonst soll
ich noch leben?« Ihre Stimme hallte. Es gab kein Gestühl in der Kirche; sie entsann sich, dass die Anhänger des orthodoxen Glaubens während der Predigten standen, die manchmal über drei Stunden dauerten. Aber es gab einen Altar, vor dem Pater Alexandras kniete. Er presste seine Lippen an das Altartuch, während sein Ministrant das Weihrauchfass schwenkte und das Schiff mit Rauchschwaden füllte. Der Duft überlagerte fast vollkommen den scharfen Uringestank.
»Eine Kirche - auch eine unechte - ist wohl kaum der Ort für einen Kampf«, wich Speranza aus. »Ich will nicht Wolfskönigin sein. Ich werde Ihnen den Rang nicht streitig machen, falls Sie das wollen und falls Sie den Grafen bitten, mir Geld für die Überfahrt nach Europa zu geben; denn ohne das Kind bin ich hier überflüssig.«
Natalia lachte.
»Ich bin noch keine von Ihnen«, ergänzte Speranza. »Ich werde hier nicht gebraucht …« Aber die Russin hörte ihr nicht zu.
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Sie riechen nach Mensch. Wahrscheinlich halten Sie an Ihrer Gestalt fest, weil Sie ihn kennen. Wenn Sie sich wandeln, wird er sie verstoßen. Nur
Weitere Kostenlose Bücher