Wolfsruf
Gelegenheiten Natalias Platz eingenommen hätte, obwohl die Diener ihr bereits ihre Ehrerbietung erwiesen. Ein Duell zwischen den beiden Frauen, welcher Art auch immer, war unvermeidlich. Aber Speranza wollte
ihre Gegnerin so lange als möglich hinhalten. Inzwischen behandelte Natalias Cousin Vishnevsky, der in der Hierarchie der gräflichen Gefolgsleute bemerkenswert an Boden verloren hatte, sie mit verächtlicher Herablassung; ihr gefiel das sogar, wusste sie doch, dass sein Schicksal mit dem Natalias verknüpft war.
Pappeln umgaben die neue Siedlung und verbargen sie. Ungefähr eine Meile, bevor sie die Stadt selbst erblicken konnten, trafen sie auf die Geleise, die sich an die Vorberge schmiegten. Sie folgten den Schienen, bis sie unvermittelt in einem Meer von kniehohem Gras endeten. Von dort aus war die Stadt zu sehen. Die Kuppeldächer einer orthodoxen Kirche leuchteten durch die Baumwipfel. Zwischen dem Laub ließen sich Fassaden verschiedener Gebäude ausmachen. Ein paar hundert Meter vom Schienenende entfernt wand sich eine Straße in den Pappelwald. Eine frisch geputzte Kutsche rollte auf sie zu. Der livrierte Kutscher schwang die Peitsche, während ein weiterer Diener mit seiner Waffe auf dem Kutschendach mitfuhr. Die Kutsche wurde von sechs weißen Pferden gezogen.
Der Graf überließ es Natalia, den Zug anzuführen, und blieb zurück, bis er neben dem Wagen ritt, in dem Speranza saß.
»Unsere Kutsche«, meinte er zu ihr, nicht ohne Humor. »Fast wie im Märchen, nicht wahr? Obwohl ich kaum glaube, dass wir von nun an glücklich bis an unser Ende leben werden.«
»Du siehst traurig aus, Hartmut«, sagte Speranza.
»Überrascht dich das? Die Neue Welt ist bedauerlicherweise nicht ganz so, wie ich sie mir erträumte. Aber sieh nur, Szymanowski scheint es zu gefallen.« Er deutete auf den kahlen Alten, dessen Pferd jetzt neben Natalias trabte. Die beiden waren in ein lebhaftes Gespräch vertieft und betrachteten interessiert das Panorama. »Ach Speranza, du weißt gar nicht, welches Paradies ich vor mir sah! Eine perfekte Welt, in der ich, meine Königin und mein Sohn leben könnten, weitab von all dem Wahn, den das Leben im neunzehnten Jahrhundert darstellt. Nun ist
mir mein Sohn genommen worden, und meine Königin, meine Königin …« Er reichte ihr seine Hand. Sie war kalt, fast wie die Hand eines Toten.
Hand in Hand näherten sie sich der Stadt. Speranza lehnte sich aus dem Wagen. Sie trug Schwarz, wie immer, aber sie hatte eine rote Schärpe umgebunden, einen Hauch von Rouge auf ihre Wangen aufgetragen und ihre Lippen karmesinrot gefärbt. Sie wusste, dass er sie schön fand, und schon das kam ihr seltsam vor, denn noch vor wenigen Monaten hätte sie sich nicht vorstellen können, jemals etwas anderes als eine einfache Gouvernante zu sein.
Dann tauchte ein Schild auf: Willkommen in Winter Eyes. Ein bemaltes und an einen Baum genageltes Brett.
Der Graf lachte leise, fast wie zu sich selbst, und sagte: »So enden unsere Träume. Ich meinte, wir sollten unsere Stadt Winterreise taufen, nach unserer langen Reise durch den Schnee; aber irgendein Spaßvogel von Schildermaler hat einen Witz daraus gemacht. Noch ein Schlag gegen Szymanowskis Vision, fürchte ich.«
Er ritt voran, gesellte sich zu seiner Geliebten, und stieg mit ihr in die von weißen Pferden gezogene Kutsche. Die Diener jubelten. Sie schienen sich wirklich zu freuen; wenigstens, dachte Speranza, hat die lange Reise ein Ende.
So erreichten die Wölfe Winter Eyes. Es waren nur wenige zu ihrer Begrüßung gekommen; einer jedoch stand mitten auf dem Dorfplatz: ein Soldat. Er zog seinen Hut, um den Grafen zu grüßen, und vielen Dienern stockte der Atem, denn statt Haaren bedeckte rosafarbenes Narbengewebe seinen Schädel. Offenbar war er skalpiert worden und hatte die Marter überlebt. Es war beinahe Mittag, und die Frühlingssonne strahlte am blauen Himmel. Es war nicht warm; eine Brise fegte durch die Straßen, die zu sauber rochen, über makellose Bürgersteige, gegen frisch gemalte Schilder, die gegen frisch gemalte Türen
klapperten, zwischen Pfosten zum Anbinden der Pferde, an denen keine Pferde waren.
Speranza kletterte aus ihrem Wagen und kam näher. An einem Ende des Platzes stand die Kirche, die der unheilige Pater Alexandras gerade betrat. Der Soldat half Natalia aus der Kutsche. Um den Platz lagen ein Hotel, ein Saloon, ein Kaufladen, ein Barbiergeschäft - aber alles schien unwirklich, denn nirgendwo bewegte sich
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