Wolfsruf
hässliche Wunde auf deiner Zunge«, sagte er. »Die muss sterilisiert werden.« Er überlegte, ob das Feuer wohl heiß genug war, ein bisschen Silber zu schmelzen, und ob er das dem alten Mann in die Kehle gießen könnte, ohne dass er sofort abkratzte.
»Vielen Dank für Ihre Begleitung, Major Sanderson«, sagte Natalia Petrowna, als der Major ihr vom Pferd half. »Das werde ich Ihnen nie vergessen.« Was für ein widerwärtiger Kerl dieser Sanderson doch war! Und doch brauche ich ihn, dachte Natalia, als sie sich ihren Umhang fester um die Schultern zog. Die Nacht brach bald an, die Berge waren nebelverhangen. Sie waren in der heißen Sonne geritten, und im Schatten war es unerwartet kühl.
Sanderson verbeugte sich und lächelte - ein feistes Grinsen, die Parodie jener wohlerzogenen Offiziere vom Hof seiner kaiserlich und königlichen Majestät in Wien. »Es ist meine
Pflicht«, sagte er - wieder diese linkische Galanterie -, »den Siedlern zu dienen, vor allem, wenn sie so schön sind wie Sie.«
Sie reichte ihm ihre Hand zum Kuss. Der Mond war fast voll, ihr Gesicht hatte bereits wilde Züge, und ihre Augen funkelten. »Sie verstehen, Major, dass unsere Mission unbedingt geheim bleiben muss …«
»Ich muss gestehen, Madam, dass ich mir über Ihre Wünsche nicht ganz im Klaren bin; die Dringlichkeit Ihrer Nachricht und das Feingefühl, mit dem Sie gewisse … äh … Punkte auszudrücken beliebten, brachten mich dazu, Sie in die Hills zu begleiten. Welche Freiheiten Sie sich gestatten werden …« Er bebte tatsächlich vor Vorfreude, dieses Tier!
»Später, Major Sanderson. Jetzt muss ich Ihnen … ein furchtbares … Geheimnis gestehen.«
Er drängte sich näher an sie. Er roch nach totem Fleisch, nach Wunden - sie wusste, dass unter seinem Stetson die vernarbte Erinnerung an seine letzte Begegnung mit den Wilden lag. Oh, er war nicht schön, nicht wie dieser Soldat, der aus der Armee geflohen war, um den Werwölfen den Krieg zu erklären, der bald selbst zum Wolf würde, der versuchte, wider seiner Natur zu leben.
Sie wollte ihn nicht ansehen; stattdessen schaute sie auf die Berge, die von der untergehenden Sonne in Myriaden Farbschattierungen getaucht und von den Kiefern mit einem Schattengitter überzogen wurden. Sie versuchte, die Witterung des Knaben aufzunehmen; sie roch eine Spur, ganz gewiss, aber sie war so schwach, dass selbst ihre feinen Sinne sie kaum aus den zahllosen Gerüchen des Waldes filtern konnten. Irgendwie hatte er seinen Geruch getarnt - davon war sie überzeugt! Vielleicht hatte er nicht einmal das Territorium markiert, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass er seinen Instinkt so gut beherrschte.
»Das furchtbare Geheimnis …«, riss sie der Major aus ihren Gedanken, aufdringlich, wie nur ein Mensch sein konnte.
»Der Graf stirbt.«
»Das habe ich bereits gehört, Natalia. Wird ein anderer seinen Platz einnehmen?«
»Er und die Indianerwölfe haben einen Waffenstillstand geschlossen.«
Der Major dachte einen Augenblick stirnrunzelnd nach. Sie fuhr fort: »Wegen des Jungen.«
»Jungen?«
»Ein Bankert des Grafen. In gewisser Hinsicht war er ausschlaggebend dafür, dass der Graf Szymanowskis Plänen zustimmte, nach Amerika auszuwandern. Ein neues Kind, ein neues Land … Sie verstehen?«
»Nicht ganz …«
»Nicht ganz! Er gehört nicht ganz zu uns!«
Er dachte darüber nach. »Also ein Art Mischling, Madam, nehme ich an. Ich mag keine Mischlinge, wie Sie wissen, und bin gerne bereit, sie vom Erdboden verschwinden zu lassen.«
»Der Graf hat lange genug nur für seinen Traum gelebt, dass dieses Kind eine Verbindung, eine Brücke zwischen Mensch und Tier sein sollte. Vor nicht langer Zeit erfuhr er, dass das Kind nicht gestorben ist, als die Wilden es entführten, sondern bei ihnen lebte und von les sauvages als Messias verehrt wird. Erst diesen Monat kam einer der Indiens peaux-rouges persönlich zu einer Unterredung mit dem Grafen nach Winter Eyes … welch eine Dreistigkeit!« Der Major ließ ein zustimmendes »Ts-ts-ts« hören.
»Wir haben erfahren, dass auch die Indianer dieses Kind als etwas Besonderes ansehen. Verstehen Sie nicht? Das hat die alte Liebe des Grafen zu dem Kind wieder zum Leben erweckt, seine alten Visionen, seine alten Träume …«
Major Sanderson hielt den Blick auf den Waldboden gesenkt. Die Blätter wirbelten um seine Füße. »Madam, ich habe mein Leben dem Kampf gegen den roten Mann geweiht«, erklärte er ihr und errötete vor
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