Wolfsruf
Stolz darüber, dass er endlich seine Ideale
offenbaren durfte. »Und es dauert mich sehr, wenn ich sehe, dass einer, den ich bisher für gleichgesinnt hielt, sich mit den Mächten der Barbarei verbündet …«
»Wir können nur eines tun … und …« Sie gestattete sich einen leichten Anflug von Verletzlichkeit in ihrem Benehmen. »O James, ich fürchte, wir müssen das Kind töten! Und wir müssen es heimlich tun … sonst ist … wenn der Graf stirbt … mein ungeborener Sohn, mein einziger Trumpf … nichts mehr wert …« Sie hielt inne, deutete viel, viel mehr an, als sie zu geben bereit war.
»Du willst das Rudel übernehmen, nicht wahr? Ich wusste gar nicht, dass Frauen …«
»Und warum nicht?« Sie funkelte ihn böse an, damit er merkte, wer hier das Sagen hatte. »Ich bin die Stärkste in unserem Volk … und ich trage sein Kind. Warum sollte nicht eine Frau führen?« Sie strich ihm leicht über die Wange und lächelte ihn an und sagte: »Aber ich könnte durch einen Mann regieren, wenn es der richtige wäre.«
»Ich bin keiner von euch!«
»Noch nicht … ich brauche einen Menschen, um den Jungen zu töten, weil wir bald Vollmond haben und ich dann nicht mehr rational überlegen kann. Aber wenn der Junge aus dem Weg ist …«
»Machen Sie mich zu einem der Ihren …«
»Und Sie werden an meiner Seite …«
»Wenn der Graf gestorben ist.«
Der Major lächelte. Diese Menschen waren so leicht zu verführen. Sklaven ihrer lächerlichen, kleinen Gelüste. Sie sind nicht mehr als Tiere, dachte Natalia, nur dazu gut, an der Nase herumgeführt, getötet zu werden.
Sie hatte keineswegs die Absicht, den Major an sich heran zu lassen. Nein, sie hatte Ehre. Der Major würde sterben, sobald er das Kind umgebracht hatte; auf diese Weise würde sie ihre Hände nicht mit dem Blut des Knaben beflecken, und niemand
würde an ihr Rache nehmen wollen, weil sie die Rache bereits auf sich genommen hatte.
»Ich habe die Silberkugeln, wie Sie befohlen haben, Natalia«, sagte der Major.
»Dann kommen Sie. Tiefer in den Wald. Ich glaube, ich rieche ihn schon.«
Der Traum - der Wald - das gekreuzigte Kind -
Speranza wachte auf. Ein Feuer schmauchte. Trockenes Laub knisterte, als sie sich aufsetzte und versuchte, den Traum abzuschütteln. Ein wenig abseits saßen der Soldat und der Junge Rücken an Rücken an einem Baumstamm. Der Widerschein des Feuers tanzte auf ihren Gesichtern.
Sie hatte eine Prise Koka-Pulver genommen, weil sie hoffte, dass es ihre Gewissensbisse stillen würde; doch sie waren nur stärker geworden. Der Soldat hatte Gefühle in ihr geweckt, Gefühle, die sie sich nicht eingestehen wollte. Sie schloss die Augen wieder. In der Ferne war Geheul zu hören. Vielleicht kam es aus ihrem Traum.
Der Traum -
Nebel. Durch die nebelverschleierten Baumwipfel schien der blutige, fast volle Mond. Ich bin immer noch in meinem Traum, dachte sie. Denn der Wald war nicht einladend und wohlriechend. Nein. Ein schwacher Fäulnisgeruch hing in der Luft. Aus der Ferne ertönte Heulen. Ich hätte mich inzwischen wirklich an das Heulen gewöhnen müssen, tadelte sie sich. Und sie stand auf und schüttelte die Zweige von ihren zerrissenen Kleidern.
Sie waren schon mehrere Tage unterwegs, seit Teddy zurückgekehrt war, und immer bergauf gegangen. Sie hatten länger gebraucht als gehofft. Morgen Nacht war Vollmond, und Scott würde bewacht und vom Mondlicht abgeschirmt werden müssen. Sie schaute die beiden an. Sie hörte sie nicht atmen.
Sie bewegten sich nicht. Panisch dachte sie: Die Wölfe sind
schon gekommen, sie haben sie im Schlaf getötet … aber nein. Der Junge stöhnte im Schlaf; es klang fast französisch. »Pa, Pa …« Seine Stimme war zaghaft wie die eines Babys.
Dann hörte sie das Flüstern. Rief nicht der Wald leise: Speranza, Speranza, Speranza? Nein. Es war der Bach, der leise plätschernd ins Tal hinabsprudelte.
Sie stand lange reglos da, wagte kaum zu atmen.
Dann hörte sie wieder das Flüstern: Speranza, Speranza.
Ich habe keine Angst, ermahnte sie sich. Ich bin hierhergekommen, weil ich den Jungen liebe - und weil ich für das sündige Leben büßen muss, das ich mit Hartmut und den anderen Wölfen geführt habe. Sie sehnte sich danach, den Jungen in ihren Armen zu halten wie damals im Zug, als er blutverschmiert aus dem Bauch der zerfetzten Dienstmagd gekrochen war. Wie hatte er damals geweint.
Speranza, Speranza, Speranza …
Es war seine Stimme! Es musste sein! Als sie sich
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