Wolfsruf
umdrehte, merkte sie, dass sie sich von ihrem Lagerplatz entfernt hatte. Die Bäume sahen sich alle so ähnlich - Nebeltentakel umschlangen sie - der Wald spielte eine unheimliche Musik; das Schreien der Nachtvögel und das Geräusch der unsichtbaren Säugetiere. Der Wind fuhr in Böen durch die Bäume.
Speranza …
»Johnny!«, schrie sie.
Eine andere Stimme noch, das raue, tierische Lachen Jonas Kays. Und eine dritte Stimme, ruhig, flüssig, die in der Sprache der Lakota redete.
Sie ging auf das Geräusch zu. Das Kind musste irgendwo dort sein. Sie musste ihn trösten, beschützen. »Johnny«, rief sie, »du bist in Gefahr, du darfst nicht …«
Ein Pfad führte über die helle Lichtung ins Dunkel. Sie musste ihm folgen. Ihr Magen verkrampfte sich, als würde sie noch unter der morgendlichen Übelkeit leiden. Die Stimme war wieder zu hören, und sie ging den Pfad entlang. Die
Bäume waren hier dicker. Dichter. Dunkler. Sie konnte kaum den Pfad vor sich erkennen und hatte ihn hinter sich längst verloren. Der Nebel umhüllte sie, die feuchte Luft roch nach Hundeurin. Ein Windstoß jagte das tote Laub hoch. Die Bäume wogten; Dunkelheit senkte sich über sie wie ein hungriger Raubvogel.
Plötzlich teilte sich der Nebel. Der Wind flaute ab. Im Nachthimmel, direkt vor dem Mond, schwebte die Silhouette einer Eule. Ein Felssims ragte über eine Klamm, und auf dem Sims leuchtete ein Kreis blauer Flammen, und in diesem Kreis stand ein Kind.
Und sie rannte auf ihn zu, rannte, ohne sich um die Sträucher zu kümmern, die ihr die Waden zerkratzten, oder um die Brennnesseln, rannte auf ihn zu, seinen Namen auf den Lippen, als er sich zu ihr umdrehte, das ernst blickende Gesicht umrahmt von blondem Haar, die Augen in einem Kreis blauschwarzer Farbe -
Und der Junge sagte zu ihr, ohne seine Lippen zu bewegen: Ich habe auf dich gewartet. Nur dich brauchte ich noch, um die Vision zusammenzufügen. Komm zu mir, Speranza.
Und sie rannte und rannte -
In die Umarmung der Dunkelheit - der Junge hielt inne, schaute auf, einen Schrei auf den Lippen, die Vision zersprang, zersplitterte, entschwand, und dann sah sie -
Tipis. Rauch. Sie befand sich am Ufer eines Baches. Auf der anderen Seite stand eine Indianerin und starrte sie neugierig an.
Ich habe ihn verpasst, dachte sie hysterisch. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen. Sie fühlte sich entsetzlich schwach. Sie brach zusammen, obwohl sie immer noch versuchte, sich an die Reste ihrer Vision zu klammern. Sie fiel rückwärts -
In Scott Harpers Arme. Teddy war nicht weit entfernt.
»Wir haben Sie schreien hören«, sagte Scott.
»Sie hatten einen Albtraum«, ergänzte Teddy. »Sie haben geweint
und sind gelaufen …« Plötzlich schwieg er. Er hatte die Frau gesehen.
»Sehen Sie«, sagte Scott und deutete auf die Frau am anderen Ufer. Speranza sah sie, eine zierliche Frau in einem Wapitilederkleid, das an ein paar Stellen mit Baumwollfetzen verziert war. Sie hielt eine irdene Amphore, mit der sie Wasser aus dem Bach schöpfen wollte; stattdessen schaute sie sie verwundert an. Das Wasser tropfte aus dem Krug auf den Boden.
»Ich dachte, sie wäre tot«, sagte Teddy leise.
Und Speranza begriff, dass dies Little Elk Woman sein musste, jene Frau, die aus dem Indianerdorf fortgegangen war, um zu sterben. Sie wunderte sich, warum sie noch am Leben war und wie sie wohl hierher gelangt sein mochte.
»Ich werde …«, sagte Teddy. Und plötzlich begann er sich zu fürchten, als könnte die Frau bloß ein Geist sein. »Ma …«
Und lief, sie zu umarmen. Wasser spritzte hoch, spritzte auf ihr Gesicht, ihre Arme. Speranza dachte: Er ist immer noch ein Kind, trotz allem, was er durchgemacht hat.
»Ich habe sie gefunden, Miss Speranza … ich dachte, sie wäre tot, und ich habe sie gefunden …«
»Aber sie ist nicht allein«, fiel ihm Scott ins Wort. »Sieh.«
Denn hinter der Indianerfrau, fast im Schatten, konnte Speranza die Umrisse vieler Tipis erkennen.
Der Wolfsjunge hatte seit vielen Tagen nichts gegessen. Jetzt war der Hunger verschwunden. Er war nur noch ein leeres Gefäß, bereit, den Traum aufzunehmen.
Er stand auf einem Sims im Vollmond. Der Wind zerrte an seinen dünnen Gliedern und peitschte ihm das Haar in die Augen, die nicht in die Ferne blickten, sondern in die Dunkelheit; denn sein Blick war nach innen gerichtet, und er befand sich auf einer Reise des Geistes.
Der Wolfsjunge zog einen Flammenkreis, den nur jene sahen, denen es bestimmt war. Es war ein
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