Wolfsruf
angezogen vom wilden, fruchtigen Aroma seiner Schenkel. Sie schrie ihm zu in der Sprache der Nacht: »Du bist für mich geschaffen, du schönes Tier, geschaffen, mich zu lieben!«
»Nein!«, brüllte er. »Nein … ich liebe dich … nicht …«
Sie knurrte ihn an, sie leckte das Fell um seine Hoden, er trabte bergauf, scharrte feuchten Dreck und totes Laub hoch. Sie wusste, dass er ihr gehören würde. Frohlockend heulte sie den Mond an. Es war so gut, endlich wieder frei zu sein, dem Gefängnis menschlichen Fleisches und menschlicher Sitten zu entkommen, das silberne Gift zu vergessen, das ihr den Wandel so schwer machte, sich von der Lüsternheit befreien zu lassen.
Dicht über dem Boden. So gut, die Erde an ihren Pfoten zu spüren, die Erde zu riechen. Sie hielt kurz an, um einen Farn zu markieren. Sie lief weiter. Die Luft wurde dünner.
Sie hörte Major Sandersons Stimme. »Diesmal sind wir wohl auf eine Goldader gestoßen …«
Licht zwischen den Bäumen; unterhalb von ihnen die Berge unter einer Decke von schwarzen Baumwipfeln. Der Wind in ihren Nüstern, der Geruch nach Verbranntem - und der betörende Duft des jungen Soldaten - er war jetzt ganz Wolf, mit weißgoldenem Fell, so wie sein Menschenhaar, mit aufgestelltem Schweif und glühenden Augen. »Ja, mein Liebling«, rief sie ihm in der Wolfssprache zu, »ja! Genieße dein Tiersein!
Genieße es!« Ihre Pfoten trommelten über die feste Erde, sie rannte, sprang, stürmte, tanzte den Tanz des Jägers. Oh, er war so schön, seine Muskeln bewegten sich harmonisch unter dem dicken Fell, die Schnauze hatte er arrogant erhoben, während er die Myriaden von Gerüchen sortierte, die er nun wahrnehmen konnte. Oh, wie sehr sie ihn liebte, diese neugeborene Kreatur der Dunkelheit.
Und sie sah die beiden Menschen auf den Sims zugehen. Der Bach am Shungmanitu-Dorf entsprang hier, ein kleiner Wasserlauf, der über schroffe Felsen fiel. Auf der anderen Seite stand der Junge, den sie suchte, und -
Noch jemand war bei ihm - diese Hündin Speranza! Das Menschenweib, das ihr den Grafen gestohlen hatte!
Brüllend hetzte sie auf den Bach zu.
Es ist fast vollbracht, sagte der Wolfsjunge zu sich. Die Musik der Flöte hatte alle herbeigeführt, sie standen jetzt am Rand des Kreises - und die Frau aus seinem alten Leben, die Frau, deren Namen ihm jetzt auf der Zunge lag, half ihnen, sich der Dunkelheit zu stellen, die sie besiegen mussten, ehe sie in den Kreis eintreten und geheilt werden konnten.
Und dann werde ich all ihre Erinnerungen besitzen und sie die meinen, und ich werde ihre Sprache verstehen und auch ihren Namen wissen.
Sie schaute ihn von außerhalb des Kreises an. Die anderen drängten sich um sie. Was träumte sie? Ihre Miene war schmerzerfüllt.
Was sah sie? Wolfsjunge wusste, dass er von dem Leben der anderen kaum etwas wusste. War etwas in dem Kreis, das er selbst nicht sah, etwas Grauenhaftes?
Plötzlich hörte Wolfsjunge einen Hilfeschrei. Es war der Gesang eines Menschen, der sterben will, der auf den Gestaltwandler, auf den Wolf wartet. Das Lied war immer dasselbe:
Tukte tuke esha munkin kta waun we
Hepin nan blihichiya waun we
»Bald«, so lauteten die Worte, »bald werde ich mich niederlegen und sterben. Jetzt stehe ich. Ich stehe auf einem hohen Berg. Ich stehe auf einem hohen Berg und habe Mut.«
Aber er stand so dicht davor, die Persönlichkeiten endlich zu vereinen, so dicht vor jenem magischen Akt, der über das Schicksal aller Wolfsmenschen entscheiden würde. Wie konnte er einen solchen Ruf jetzt beantworten? Und doch musste er es tun. Er durfte keine Selbstsucht zeigen. Der Weg der Shungmanitu war immer schon der Weg des Mitleids gewesen.
»Wartet«, sagte er leise und legte seine Flöte nieder. »Ich muss einen tapferen Mann in das Land der vielen Tipis bringen.«
Die anderen verharrten am Kreis, warteten.
Der Hilferuf kam von der Quelle.
Triumphierend sah Cordwainer Claggart sein Opfer näher kommen und bereitete seine Falle vor.
Und als der Wolfsjunge den Kreis verließ, fiel das Mondlicht auf ihn, und er wandelte sich, flüssig, geschmeidig, schmolz in die Gestalt eines Vierfüßigen, spannte sich an und sprang die großen Felsen hinauf, hin zu dem einen, der ihn rief.
Und als Speranza den gekreuzigten Wolf berühren wollte, da zerbrach der Traum, und sie sah keinen gekreuzigten Wolf mehr, sondern einen Mann.
»Das wär’s gewesen, Wolfsjunge«, murmelte Cordwainer Claggart leise. »Jetzt gehörst du
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