Wolfsruf
mir, Kleiner, mir ganz allein.«
Der alte Indianer war mit zwei Rohlederschnüren an einem Baum aufgehängt. Die Schnüre waren an seinen Brustwarzen angebracht. Der alte Mann schwang hin und her.
Speranza hörte ein rhythmisches Trommeln von einem Ast, sie entdeckte Cordwainer Claggart, der mit seinem Pistolenknauf auf eine Satteltasche hämmerte. Er sah aus wie ein Wahnsinniger. Er schlug rhythmisch und langsam, wie auf eine Indianertrommel, und rief ihr zu: »Guten Abend, Madam! Wir sind uns doch schon mal begegnet … im Zug, nicht wahr?«
Er trommelte. Der Indianer tanzte. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Blut strömte aus seiner Brust und mischte sich mit dem Wasser des Baches.
»Die Indianer haben ihren Sonnentanz«, sagte Claggart. »Warum soll es nicht auch einen Mondtanz geben? Einen Mondtanz für die Werwölfe … mit Silberketten an einen Todesbaum gefesselt!«
Jetzt verstand sie, was er meinte. Die Brustwarzen des Alten waren mit silbernen Nadeln durchbohrt. Sie glänzten im Mondlicht. Der Alte schrie nicht, sondern sang leise vor sich hin. Es war eigentlich kein richtiger Gesang - eher ein Gurgeln, jetzt wurde ihr bewusst, dass ihm die Zunge herausgeschnitten worden war und dass aus seinem Mund stetig Blut tropfte.
Wo das Silber seine Haut durchbohrte, sah Speranza Wolfspelz wachsen, und Wolfshaut drückte sich durch die Wunden in seinen Armen und an seiner Flanke. Kreuzigung, schlimmer als eine Kreuzigung!
»Mr Claggart«, flüsterte Speranza entsetzt, »ich kann mir nicht vorstellen, was Sie durch eine so unvorstellbare Grausamkeit erreichen wollen!«
»Sie können es sich nicht vorstellen … ha, ha! Sie verstehen wirklich, sich vornehm auszudrücken, Madam. Passen Sie mal auf: Diese Shungmanitus sind verdammt berechenbar. Sie halten sich für so eine Art Todesengel, sie glauben, sie sind gesandt
von ihrem Wakantanka, um die Seelen der Sterbenden einzusammeln. Wenn sie einen alten Mann klagen hören, dann müssen sie ihn erlösen, auf jeden Fall … selbst wenn sie ihre Traumwanderung dafür abbrechen müssen!«
»Johnny würde seinen Traum nie aufgeben … nicht wenn er endlich geheilt werden kann … nicht wenn er seiner armen Seele endlich Frieden geben kann …«
»Da«, verkündete Claggart und baumelte über ihr mit den Beinen, »irren Sie sich, Madam. Drehen Sie sich mal um.«
Ein junger Wolf jagte über die Felsen auf sie zu. Er umkreiste sie langsam. Dann fixierte er den Alten mit starrem Blick, und der Alte starrte zurück.
»Ein altes Wolfsritual«, erklärte ihr Claggart. »Ich habe keine Ahnung, wozu das gut sein soll. Wölfe und ihre Beute tauschen lange Blicke aus, damit das Opfer dem Jäger sagen kann, dass es wirklich sterben will, und der Jäger bittet die Beute, ihm zu vergeben … jedenfalls glauben das die Indianer, habe ich mir sagen lassen.«
Es war schön anzusehen, das langsame Umkreisen, der Blick, in dem Liebe und Tod lagen. Aber Speranza dachte nur an Johnnys Heilung, an die Tatsache, dass er am Rand des Kreises gestanden hatte, in dem er zu einem Ganzen geworden wäre -
»Bleib stehen, Johnny!«
Zu spät. Der Wolf sprang hoch, Silbergrau flog durch den Schatten, und die Lederschnüre strafften sich. Der Alte schrie nicht; ein schwaches Pfeifen stieg aus seiner Kehle. Die Silberhaken rissen aus seiner Brust und baumelten nutzlos am Baum. Blut spritzte auf Speranzas Gesicht, tränkte ihren Rock, so wie der Fluss in ihrem Traum ihn durchtränkt hatte.
»Johnny …« Der Wolf riss jetzt das Fleisch auf. Seine Fangzähne durchbohrten Sehnen, zerfleischten das Halsgewebe, bissen den Brustkorb auf, sodass sich eine Rippe nach der anderen löste, und immer noch schwangen die Fleischfetzen an den silbernen Pendeln hin und her.
»Mann, was für ein Anblick!«, empörte sich Cordwainer Claggart scheinheilig. »Aber er glaubt immerhin, ihm einen Liebesdienst zu erweisen … indem er den armen dummen Indianer von seinen Leiden erlöst … armer Indianer! Er hat geglaubt, dass der Junge so etwas wie ein Sohn für ihn ist … aber er hat nur einen einzigen Vater … der ihm zeigen wird, wie schlecht die Welt sein kann!«
»Sie sind ein grausamer Mensch«, schrie Speranza, während der Wolfsjunge einen Arm aus dem Gelenk riss. »Ich wünschte, es gäbe auf dieser Welt keinen Platz für Geschöpfe wie Sie. Ich hielt den Grafen für den Prinz der Dunkelheit, aber er hatte wenigstens Mitgefühl, ja Adel …«
»Klar, dass Sie so gut über den Grafen sprechen.
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