Wolfsruf
antwortete: »Es macht mir Angst, dass er zurückgekommen ist. Sie haben mir versprochen, dass er tot ist, Dr. La Loge. Ich glaube Ihnen nicht mehr. Ich glaube nur noch ihr.«
Vorsichtig trat ich zu ihm. Er schien so verletzlich.
»Wahrscheinlich erinnerst du dich nicht mehr, Speranza«, sagte Johnny. »Es ist schon so lange her. Deshalb werde ich dir alles erzählen. Von Anfang an.«
»Schalten Sie Ihr Tonband ein«, flüsterte La Loge mir zu.
Ein paar Tage später begann ich mit dem Buch.
Es war nicht das Buch, von dem ich geträumt hatte, als ich mit meinem Wagen durch den Schnee pflügte. Es war nicht der sensationslüsterne Bestseller, den ich hatte schreiben wollen. Es war eher ein Roman als eine Reportage, und ich war froh darum, denn wohl kaum jemand wird die Wahrheit glauben; außerdem ist das inzwischen egal.
Das Rätsel um den Killer von Laramie war nur ein winziger Flicken in dem komplexen Gewebe von Johnny Kindreds Geschichte. Johnny sprach mit den verschiedensten Stimmen; er besaß ein geradezu unheimliches Talent, Menschen zu imitieren. So wurde das Buch in den Stimmen seiner vielen Figuren geschrieben: der Europäer, der Amerikaner, der Shungmanitu,
die in gewisser Weise wie die anderen Indianer der Prärie waren und doch ganz anders. Später wurde auch ich ein Teil der Geschichte, war untrennbar damit verbunden. Das hatte nichts mehr mit objektivem oder subjektivem Journalismus zu tun.
Alles hatte vor mehr als achtzig Jahren begonnen. Die Hauptdarsteller kamen aus den verschiedensten Ländern; sie waren durch einen Ozean und eine kulturelle Kluft getrennt, die tragische Konsequenzen haben sollte. Nur eines war ihnen gemeinsam, als sie die Reise zu ihrem vorherbestimmten Treffen begannen, nämlich ihre Natur, die vollkommen menschlich war und doch immer anders, immer fremd.
Und noch etwas hatten sie gemeinsam - den Schnee. Es war auf beiden Seiten des Ozeans ein harter Winter.
Erster Teil
ÜBER DEN SCHNEE
1
1880: Dakota-Territorium
Mond im ersten Viertel
»Schnee. Schnee, der seit dem Dunkelwerden fällt. Tiefer Schnee auf dem Zelteingang, vom Wind hochgepeitscht. Schnee, der durch die Wände dringt, wo die Häute dünn sind. Schnee auf den Bäumen draußen, schwerer Schnee, der die Äste bricht. Fester, harter Schnee auf dem Boden, störrischer Schnee. Schnee in der Luft, selbst über den glühenden Scheiten des Feuers. Schnee auf deinen Kleidern und auf deinem Haar und auf deinen Augenbrauen, mein Sohn. Wundert es dich, mein Sohn, dass dieses Jahr der Winter meinen Körper durchdrungen hat und mein altes Frauenherz zu Eis erstarrt ist?«
Er antwortete ihr nicht, sondern saß schweigend mit gekreuzten Beinen auf dem Büffelfell. Vielleicht lauschte er dem Wind. War er überhaupt wach? Aber seine Augen waren offen.
»Es wird Zeit für mich, in den Schnee zu gehen, mein Sohn. Der Pemmikan reicht nur für dich und deine Frauen und deine Kinder. Ihr werdet die Hunde schlachten, einen nach dem anderen, um von Mond zu Mond dem Hunger zu trotzen. Die Zeit ist gekommen. Der Wind ruft und weint, und manchmal ruft er meinen Namen. Sei nicht traurig. Ich weiß, dass du deshalb nicht mit mir sprichst. Auch du hörst meinen Namen im Wind, mein Sohn. Stimmt das nicht?«
Er schaute sie immer noch nicht an. Sie betrachtete ihn. Sein Haar war fast so grau wie ihres; hie und da war es schneebefleckt. Im Schatten, vom Feuer entfernt, weinte ein kleines Kind; sie hörte die besänftigende Stimme eines jungen Mädchens und wusste nicht, welche Frau ihres Sohnes da sprach, denn ihre Ohren waren schwach geworden. Sie wusste nur, dass
er nur aus tiefster Ehrerbietung ihr gegenüber nicht mit ihr sprach; wann immer er das Wort an sie richtete, tat er es in der höflichsten Form. Sie wünschte, das wäre anders. Die Kälte hatte sich den Weg in ihre Knochen gebahnt. Sie spürte, wie sie knirschten. Ihre Knochen waren wie Flöten, auf denen der Winterwind sein Lied spielte.
»Das Schlimmste von allem, mein Sohn …« Sie hielt inne. Endlich schaute er auf. Seine Gefühle drohen ihn zu überwältigen, dachte sie. Ich darf ihn nicht beschämen. »Ich kann mich nicht mehr verwandeln. Verstehst du? Ich habe die Gabe verloren.«
»Ina«, sagte ihr Sohn endlich. »Mutter. Wirst du zu meiner Inachikala, deiner Schwester, gehen?«
»Ja.« Ihre Schwester hatte erst vor wenigen Monden das Lager verlassen. Auch sie hatte sich nicht mehr verwandeln können. Aber sie zog die Vierbeinigen vor. Sie war überzeugt,
Weitere Kostenlose Bücher