Wolfsruf
dass sie die Stimme ihrer Schwester im Wind gehört hatte, die in der geheimen Sprache der Shungmanitu mit ihr redete. Aber das sagte sie nicht laut; sie wollte ihre Enkelkinder nicht beunruhigen. Einige waren wach und hörten jedes Wort. Dessen war sie sicher. Ihre kleine Schwester musste ebenfalls hungrig sein.
Aber wenigstens kann ich Mitankalas Hunger dämpfen, dachte sie. Wie meine Kinder und die Kinder meiner Kinder die Hunde schlachten und essen werden, so werde ich dem mächtigen Hund der Dunkelheit als Mahl dienen.
Die Kälte war betäubend, so betäubend; sie zwang sich, klar zu denken. Sie stellte sich Hitzewellen vor, die von dem niedergebrannten Feuer ausgingen und sie umfingen. Das Bild wärmte sie ein wenig.
»Ich muss meinen ganzen Schmuck anlegen«, sagte sie. »Ich will nicht wie ein Bettler in die andere Welt eintreten.« Unter den Blicken ihres Sohnes begann sie in ihren Besitztümern zu kramen. Dazu gehörte eine Holzkiste, die von den weißen
Männern über die Arapaho zu ihr gekommen war. Sie öffnete den Deckel und zog eine Bürste heraus - der Schwanz eines Stachelschweins, der über einen Büffelknochen gespannt war. Sie begann, die Strähnen ihres dünnen, trocknen Haares zu kämmen, und sie verzog das Gesicht vor Schmerz. Dann nahm sie das Kleid, das sie schon besessen hatte, als sie in den Haushalt ihres Sohnes aufgenommen wurde, und legte es sich an, das Fell nach innen gewendet; das Leder war mit sich paarenden Wölfen bemalt. Sie wählte einen Stock aus, jenen, den sie als junges Mädchen geschnitzt hatte. Sie strich Bärenfett auf ihr Gesicht und ihre Arme. Vielleicht würde es sie vor der Kälte schützen. Eine Weile jedenfalls. Bis sie ihre Schwester gefunden hatte.
»Wirst du es bis zum Sterbeplatz schaffen?« Ihr Sohn versuchte, ruhig und gleichmütig zu sprechen, aber sie wusste, dass sie ihm das Herz brach.
»Ja. Ich werde sogar ein letztes Mal den Mondtanz tanzen«, tröstete sie ihn. »Wir werden zusammen tanzen, meine Schwester und ich, unter dem Licht-im-Dunkel. Du wirst stolz auf uns sein.«
Sie ging zum Eingang und schob das Fell vor der Öffnung beiseite. Schnee wehte ins Tipi. Das Kind weinte wieder, rief ihr nach: »Unchi, unchi!«
»Keine Angst, Mahtohokshila, Kleiner-Bär-Junge«, flüsterte sie. »Komm zu Großmutter.« Das Kind stolperte über die Felle auf sie zu. Sie nahm es in den Arm. »Ich erzähle dir eine Geschichte.« Sie wiegte es zärtlich hin und her.
»Als Wakantanka alle Dinge machte«, sagte sie, »machte er manche unserer Geschwister mit Flügeln und manche mit vier Beinen und manche mit zwei Beinen. Und sie flogen und liefen davon in alle vier Ecken des Universums, und jedes sang sein eigenes Lied … außer einem: dem, den wir Wichasha Shungmanitu nennen. Und Wakantanka sagte: ›Warum freust du dich nicht wie die anderen? Alle haben gewählt, was sie sein wollen,
Geflügelte, Vierbeinige oder Zweibeinige, Wesen der Luft oder der Erde oder des Geistes. Warum bleibst du hier?‹ Und Wichasha Shungmanitu antwortete: › Tunkashila, Großvater, ich will klug sein wie der Mensch und so tapfer im Krieg und das Universum verstehen so wie er. Aber ich habe auch einen dunkleren Wunsch. Ich will wild sein und leichtfüßig und stark wie der Wolf, und ich will nicht verstehen müssen. Denn zu verstehen, das ist gleichzeitig das größte Geschenk und der schrecklichste Fluch.‹ Und das Große Geheimnis sagte: ›Du verstehst mich zu gut, Michinkshi. Ich habe allen Dingen Licht und Dunkelheit gegeben. Und weil du verstanden hast, will ich dich von den Menschen lösen und dir die Kraft zum Wandel geben; und diese Kraft wirst du spüren, wenn Licht-im-Dunkel am stärksten ist. Den Lakota und den Cheyenne und den Arapaho und den Apsaroke und den Sarsi und allen Völkern der Erde sollst du Bruder und kein Bruder sein. Und du wirst Bruder und kein Bruder sein für alle Wesen, die fliegen und laufen und kriechen. So soll es sein!‹ Und deshalb, Takozha, sind wir hier.«
Sie lächelte, denn der Kleine war über der vertrauten Geschichte eingeschlafen. Mahtohokshilas Mutter war jetzt bei ihr. Sie kniete nieder und streckte ihre Arme aus, um ihr das Kind abzunehmen.
Sie dachte: Die Zeit ist gekommen.
Sie hob die Abdeckung, so hoch es ging, und kroch hinaus.
Als sie sich aufrichtete, stand sie knietief im Schnee. Der Wind klagte laut; sie konnte kaum den Ruf ihrer Schwester hören, tief im Wald hinter der Lichtung. Als sie sich vom Tipi entfernte, ging der
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