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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Ruf im lauten Wehklagen ihrer weiblichen Verwandten unter, und sie vernahm das unglückliche Schluchzen ihres Sohnes. Sie war stolz, dass er sich lange genug beherrscht hatte, damit sie in Würde gehen konnte. Aber jetzt hatte sie Angst um ihn und um seine Frauen und Kinder. Es war nicht sicher, ob sie den Winter überleben würden, selbst wenn sie eine unnütze alte Frau weniger ernähren mussten.

    »Schwester!« Ihre Stimme war über den Klageliedern und dem Sturmgeheul kaum zu verstehen. Aber sie wusste, dass ihre Schwester sie hörte. Denn ihre Schwester war auf die dunkle Seite gegangen; und die Wesen der dunklen Seite hörten viel besser als die Menschen.
    Sie glaubte, eine Antwort zu vernehmen: ein Knurren. Irgendwo vor ihr, hinter den Schneewehen. Jenseits des zugefrorenen Baches.
    Ich werde den Mondtanz noch einmal tanzen, schwor sie sich. Ganz bestimmt!
    Der Schnee wehte heran, heftiger, kälter. Sie stemmte sich gegen eine Bö und stapfte unerschrocken in den Wind.

2
    Victoria Station, London
    »Verzeihen Sie. Gestatten Sie mir eine Frage … Sind Sie … Habe ich die Ehre, mit Mademoiselle Martinique zu sprechen?«
    »Sir, Sie befinden sich im Warteraum für Damen. Ich nehme doch an, dass Sie sich bewusst sind, welche Ungehörigkeit die Anwesenheit eines Mannes unter so vielen allein reisenden Damen darstellt. Also gehen Sie bitte wieder hinaus und stellen Sie Ihre Frage noch einmal von draußen, ohne die Dreistigkeit, die Sie eben an den Tag gelegt haben.«
    »Aber natürlich. Ich bitte vielmals um Verzeihung.«
    Speranza, die diese Unterhaltung und ihren Namen gehört hatte, blickte von ihrer Bibel auf. Eine korpulente Dame, deren fröhlich gefiederter Hut in krassem Widerspruch zu ihrem kämpferischen Benehmen stand, führte die Auseinandersetzung mit einem bärtigen Herrn in einem Tagesanzug. Vielleicht war das der Bote, den der Sekretär Seiner Lordschaft in seinem
Brief erwähnt hatte. Sie erhob sich und berührte die fette Frau am Arm. »Verzeihen Sie, Madam, aber ich glaube, der Gentleman sucht nach mir.«
    Die Frau schenkte ihr einen Blick voll eisiger Verachtung. Sie erbebte, und ihr künstliches Gefieder erbebte mit ihr. »Der Wartesaal eines Bahnhofes ist wohl kaum der geeignete Ort für ein heimliches Rendezvous«, tönte sie. »Und dass Sie Ihre unnatürlichen Begierden hinter einer Bibel zu verstecken suchen, finde ich höchst abstoßend.«
    Nachsichtig erwiderte Speranza der gereizten Dame: »Suchen Sie den Spreißel in ihrem eigenen Auge, Madam. Das ist die beste Methode, um jenen Schaden zu heilen, den allzu lange Meditationen über die Übel dieser Welt im empfindsamen Herzen einer Dame anrichten können.«
    »Unerhört!«, schnaufte die fette Frau, als Speranza an ihr vorbeieilte und sich dem bärtigen Gentleman näherte, der vor der Tür wartete. Ihr entging nicht, dass ihn der Wortwechsel amüsiert hatte, aber als er sie kommen sah, unterdrückte er sein Lachen und begrüßte sie ganz ernst.
    »Mademoiselle«, begann er in miserablem Französisch und zog einen Brief aus seiner Westentasche, »j’ai l’honneur de vous présenter cette lettre écrite par …«
    »Mein Gott!«, entfuhr es der fetten Frau. »Ich hätte es wissen müssen. Eine Französin. Ein durch und durch verdorbenes Volk!«
    »Nur halb Französin«, verbesserte Speranza, »und halb Italienerin. Sir, lassen Sie uns dieses Gespräch woanders weiterführen! Manche Menschen können wirklich zu lästig werden! Ganz bestimmt machen die Menschenmassen hier im Bahnhof die Aufsicht einer Anstandsdame überflüssig.«
    »Sie sprechen ausgezeichnet Englisch, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.«
    »Das tue ich«, bestätigte Speranza. »Und wenn Sie es nicht zu unverschämt finden, möchte ich vorschlagen, dass wir unsere
Konversation auf Englisch weiterführen. Ich glaube, ich beherrsche diese Sprache besser als …« Sie versuchte, dem Satz noch eine taktvolle Wendung zu geben, aber es war zu spät, deshalb wechselte sie das Thema. »Ich war jahrelang Gouvernante des Sohnes von Lord Slatterthwaite - des Ehrwürdigen Michael Bridgewater, der uns leider auf so grausame Weise entrissen wurde …«
    »Schwindsucht, wie ich gehört habe«, sagte der Bote kopfschüttelnd. »Aber ich habe vollkommen versäumt, mich Ihnen vorzustellen. Mein Name ist Cornelius Quaid. Ich stehe im Dienste … einer Herrschaft, deren Name ich noch nicht nennen kann.«
    »Lord Slatterthwaite versicherte mir, dass Ihre Herrschaft einen

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