Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
Vom Netzwerk:
ausgezeichneten Ruf genießt. Ich verlasse mich auf sein Wort, Mr Quaid. Und wo ist der Junge?«
    »Langsam, langsam, Mademoiselle Martinique. Alles zu seiner Zeit. Erst möchte ich den weiteren Ablauf mit Ihnen durchsprechen. Hier ist der Brief, den ich erwähnte; er wird Ihnen und dem Knaben eine sichere Reise garantieren. Beigefügt ist eine Bankvollmacht, mittels der Sie alle nötigen Ausgaben während der Reise bestreiten können; ich bin überzeugt, dass Sie keinen Missbrauch damit treiben werden. Die Reisepapiere, Fahrkarten, Fahrpläne und andere notwendige Dinge befinden sich ebenfalls in dem Umschlag. Ihr Zug fährt in gut einer Stunde ab. Ihre Sachen sind in der Gepäckaufbewahrung, nehme ich an? Ich werde dafür sorgen, dass sich jemand darum kümmert. Außerdem …« Er griff in eine weite Hosentasche und zog eine kleine Börse heraus. »… bin ich befugt, Ihnen einen kleinen Vorschuss auszubezahlen.« Speranza war darüber sehr froh. Nach ihrer Entlassung aus Lord Slatterthwaites Diensten wäre sie ohne diesen neuen Auftrag vollkommen mittellos gewesen, obwohl sie sich nichts hatte zuschulden kommen lassen. »Er steht zu Ihrer freien Verfügung, Mademoiselle. Der Beutel enthält einhundert Guineen in Gold. Das restliche Gehalt werden
Sie empfangen, sobald Sie den Jungen bei Dr. Szymanowski in Wien abgegeben haben.«
    »Ich verlasse mich auf Sie, Mr Quaid«, sagte Speranza und steckte die Börse in eine Innentasche ihres Mantels. Wo war das Kind? Seine Lordschaft hatte ihr erklärt, ihre neue Aufgabe bestehe darin, einen jungen Knaben durch Europa zu begleiten. Sie sei dafür hervorragend geeignet, hatte er ihr versichert, denn sie wisse nicht nur über Kinderpflege Bescheid, sondern spreche Französisch, Englisch und Italienisch und könne sich außerdem in einigen der unzähligen Sprachen des österreichisch-ungarischen Imperiums verständigen. Über den Jungen hatte er allerdings nichts weiter gesagt, und Speranza konnte es kaum erwarten, ihn kennenzulernen. Sie bereute, die Wärme des Wartesaals verlassen zu haben. Der beeindruckende Bahnhof war nur schwach beheizt; in den Haaren der Bettler und Kinder und auf den Hüten und Mänteln jener, die sich solche Kleidung leisten konnten, entdeckte sie Spuren des Schneesturms, der draußen tobte. Ein regelrechter Tumult herrschte hier: Blumenmädchen, Zeitungsverkäufer, alte Frauen, die Nierenpasteten brieten, und natürlich die Passagiere selbst, Arm und Reich, hasteten durcheinander, alle mit jener Miene anerzogenen Stumpfsinns, die Speranza nur allzu oft an den Engländern bemerkte.
    »Der Junge?«, fragte sie schließlich.
    »Ah, ja, der Junge.« Plötzlich schien Cornelius Quaids Miene Betroffenheit auszustrahlen. War der Junge krank? Schwindsüchtig vielleicht, und eine Gefahr für seine Mitmenschen? Aber Speranza hatte wochenlang Tag und Nacht am Bett des armen Michael gewacht. Wenn bei ihr Ansteckungsgefahr bestünde, dann hätte sie sich bestimmt schon angesteckt.
    Sie sagte: »Sir, ich nehme an, dass wir es mit einer Krankheit zu tun haben, nachdem ich den Jungen zu einem Doktor bringen soll. Ein Spezialist vielleicht? Ich versichere Ihnen, dass ich jede Mühe auf mich nehmen werde, um …«

    »Mademoiselle, es handelt sich nicht um eine Krankheit des Körpers, sondern der Seele.«
    »Aha, eine dieser neumodischen Geisteskrankheiten?« Speranza wusste, dass jetzt auch die düsteren Tiefen des Geistes erforscht wurden; aber natürlich war das kein Thema für eine anständige Unterhaltung.
    »Nein, ich meine der Seele, nicht des Geistes.«
    Sie versteifte sich ein bisschen bei dieser Eröffnung, denn die Dame hatte, ohne es zu ahnen, in einem Punkt recht gehabt: Die Bibel, die Speranza Martinique bei sich trug, war reine Kosmetik. Denn Speranza wurde ständig von, wie sie fand, unstatthaften Gedanken bedrängt; ihre strenge Kleidung und die Bibel sollten jeden Verdacht von ihr abwenden, denn sie war überzeugt, dass jeder Fremde ihr in die Seele sehen konnte, sobald sie einmal nicht auf der Hut war.
    »Der Junge ist besessen«, eröffnete ihr Mr Quaid todernst. »Manchmal, bei Vollmond …«
    »Ruhig, Mr Quaid! Wir leben im neunzehnten Jahrhundert; ein solcher Aberglaube passt nicht mehr in unsere Zeit, finden Sie nicht auch?«, fiel sie ihm mit leichtem Unbehagen ins Wort. Sie zitterte und dachte: Ist es nicht verständlich, dass ich zittere? Es ist tiefster Winter; niemand außer diesen groben Engländern kann eine solche Kälte genießen.

Weitere Kostenlose Bücher