Wolfsruf
»Sagen wir einfach, der Junge ist … krank.«
»Wie Sie wünschen. Ich bin kein Experte, was Kinder betrifft. Aber lassen sie mich noch eines hinzufügen. Die Mutter des Jungen ist tot. Sie wurde unter höchst unerfreulichen Umständen ermordet. Ich kenne zwar keine Details, aber …« Er senkte die Stimme, sodass sich Speranza anstrengen musste, um ihn zu verstehen. »… es waren heidnische Riten im Spiel. Teufelsanbetung. Verstümmelungen, soweit ich weiß. Grässlich, grässlich!«
»Wenn dem so ist, dann ist es ganz natürlich, dass der Junge krank ist. Besessen, fürwahr! Traurig, verwirrt, vielleicht darüber
verunsichert, was Gut und was Böse ist … nichts, was richtige, liebevolle Zuneigung nicht heilen könnte«, sagte Speranza. Sie fügte nicht hinzu - obwohl es ihr auf der Zunge lag -, dass sie die englische Auffassung von liebevoller Zuneigung höchst merkwürdig fand; jene bestand ausschließlich in der regelmäßigen Anwendung der Rute. Warum wohl lieben die Engländer die Peitsche so sehr?, überlegte sie.
»Nun«, riss Mr Quaid sie aus ihren Gedanken, »es wird Zeit, dass Sie Ihren Zögling kennenlernen.«
Er winkte. Die Geste war so herrisch, dass die Menge sich zu teilen schien. Zwei Männer kamen auf sie zu; sie sahen aus wie Lakaien eines vornehmen Haushalts. Der Junge ging zwischen ihnen. Wie beschämend, dachte Speranza, ihn wie einen Gefangenen eskortieren zu lassen! Nach allem, was er durchgemacht hat!
»Komm her, Johnny«, sagte Mr Quaid. »Dies ist Mademoiselle Martinique, die für dein Wohlergehen verantwortlich ist, bis du sicher in den Händen von Dr. Szymanowski bist.«
Speranza betrachtete den Jungen, der sich ihr mit gesenktem Blick näherte. Sie hatte ein reiches, wohlgenährtes Kind erwartet; aber Johnnys Kleider hätten, wären sie nicht frisch gewaschen gewesen, aus einem Armenhaus stammen können; ihrem geschulten Blick entging nicht, dass sein Mantel mit groben Stichen geflickt war. Das Kind war blond und blauäugig; sein Haar war kurzgeschoren; nur Gefangene und die Insassen der Irrenhäuser trugen ihr Haar so kurz, weil ihr Schopf an Perückenmacher verkauft wurde. Sie fragte sich, wo Johnny wohl gelebt hatte, bevor sein unbekannter Wohltäter ihn befreit hatte. Und er war höchstens sieben Jahre alt! Oder er war für sein Alter zu klein, unterernährt. Er kam näher, hielt aber den Blick immer noch gesenkt. Ganz offensichtlich hatte man ihn misshandelt. Diese Engländer, dachte sie bitter. Ihr fiel wieder ein, dass der Ehrwürdige Michael Bridgewater, auch als er schon schwer krank war, noch von Zeit zu Zeit die Rute zu spüren bekam.
Und die frische Luft, dachte sie. Die frische Luft, die man hier so liebt, wie kalt sie auch sein mag. Sie war überzeugt, dass die frische Luft Michael letztendlich umgebracht hatte. Sie würde alles tun, damit Johnny nicht das gleiche Schicksal erleiden müsste. Schon fühlte sie den starken Drang, ihn zu beschützen.
»Johnny Kindred«, sagte Cornelius Quaid, »du hast deiner neuen Wächterin ohne Widerrede zu gehorchen. Ist das klar?«
»Ja, Sir«, murmelte der Junge.
»Und jetzt schüttele Mademoiselle Martiniques Hand. Aber elegant. Jetzt sag: ›Wie geht es Ihnen, Mademoiselle Martinique? ‹«
Speranza riss der Geduldsfaden. »Mr Quaid, bitten lassen Sie mich demonstrieren, wie ich mit Kindern umgehe.« Sie wandte sich dem Kind zu und nahm seine Hand. Seine Finger zitterten vor Angst. Sie drückte sie zuversichtlich. »Du kannst mich Speranza nennen«, erklärte sie ihm. »Und du brauchst mir nicht die Hand zu schütteln. Du kannst mich auf die Wange küssen, wenn du möchtest.«
Mr Quaid rollte missbilligend die Augen.
»Speranza«, sagte der Junge und schaute sie zum ersten Mal an.
Sie wartete Mr Quaids Tadel gar nicht erst ab. Ohne weiteren Aufhebens und ohne die Hand des Jungen loszulassen, marschierte sie mit ihm auf den Bahnsteig. Bald wären sie am Meer. Bald hätten sie den Kanal überquert und wären in einem Land, wo sich die Männer nicht schämten, ihre Gefühle zu zeigen.
Sie hatte bereits begonnen, das Kind zu lieben, das ihr anvertraut worden war. Sie war entschlossen, es von seiner Angst zu heilen. Besessen, also wirklich! Der arme Junge! Speranza war davon überzeugt, dass sich fast jede Krankheit durch Liebe heilen ließ. Und obwohl sie eine Frau mit vielen Fähigkeiten war, war die Liebe doch ihr größtes Talent.
3
Dakota-Territorium
Zunehmender Mond
»Lieutenant Harper! Zeke Sullivan!
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