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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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Blut.
    Als sie fortritten, warf Teddy einen letzten Blick auf die alte Mann-Frau, die über der Leiche ihres ehemaligen Partners stand und ihnen mit großen, tränenlosen Augen nachblickte.

6
    Bitter Creek, Wyoming
    Ein Tag nach Vollmond
     
    Das Plakat hing an der Wand einer Lagerhalle, zwischen einem Anschlag über billiges Land in Utah und dem Steckbrief eines Viehdiebes. Speranza schenkte ihm nur einen kurzen Blick, um sicherzugehen, dass der Zirkus der Wandlungen heute Nacht tatsächlich auf einem Feld neben dem Friedhof spielen würde.
Aber jemand hatte mit dickem, rotem Stift FÄLLT AUS darübergeschrieben.
    Ein Träger brachte ihren Koffer auf den überdachten Gehsteig. Sie blieb unentschlossen stehen, fühlte sich in ihrem fuchsbesetzten rosa Sakko unter dem Serge-Reisemantel fehl am Platze. Ihr Hut mit den bunten Seidenblumen, die Seidenhandschuhe, die Löckchen - all das wies sie als feine Dame aus San Francisco aus. Ein Gassenjunge rannte vorbei, kickte einen Ball vor sich her, der schon bessere Tage gesehen hatte. Die Straße war verschlammt und mit Laub bedeckt.
    Auf der anderen Straßenseite war ein General Store mit einem großen »Orcico-Tabak«-Schild. Die Zirkusplakate, die an die Wand genagelt waren, trugen ebenfalls die Aufschrift FÄLLT AUS.
    Ratlos ließ sie ihren Koffer in der Obhut des Bahnhofsvorstehers zurück und machte sich daran, die Stadt zu erforschen. Durch ihre Kleidung zog sie zwar neugierige Blicke auf sich, aber niemand belästigte sie. Vielleicht war das der Bibel zu verdanken, die sie unter ihren Arm geklemmt hatte. Nach fünf Minuten war sie am Ortsausgang angelangt. An den Mauern hingen noch mehr Zirkusplakate, allerdings noch ohne Vermerk. Sie ging langsamer, hoffte, dass vielleicht jemand auftauchen würde, der die Plakate beschriftete und ihr mehr über Claggarts Aufenthaltsort verraten konnte.
    Im letzten Haus war das Büro des Marshalls untergebracht. Davor stapelten sich Wolfsfelle, und ein mürrischer Mann mit Silberstern stritt sich mit einem großgewachsenen Indianer herum - wahrscheinlich aus einem nahegelegenen Reservat.
    »Keine Prämien mehr«, übertönte der Marshall die Proteste des Indianers. »Ich weiß, dass ihr eure Familien mit den Wolfsprämien ernährt, aber um die Wahrheit zu sagen, die Regierung will keine Familien mehr unterstützen, die nicht wie anständige Christenmenschen ihr Land bestellen.«
    Speranza kam näher, versuchte, unbeteiligt zu wirken, indem
sie die Steckbriefe studierte, die an die Wand genagelt waren. Vor allem einer fiel ihr auf:
    THEODORE GRUMIAUX - REVOLVERHELD
Gesucht wegen Mordes an drei Menschen
in Duchesne County, Utah
Belohnung: $ 1000 in GOLD
    Konnte das wirklich der Junge sein, der sie vor drei Jahren nach Cheyenne begleitet hatte, der Junge, der sich so liebevoll um Scott Harper gekümmert, der sich so um Johnny Kindred gesorgt hatte? Eine Phantomzeichnung des mutmaßlichen Mörders war ebenfalls abgebildet, die allerdings wenig Ähnlichkeit mit dem Knaben in ihrer Erinnerung aufwies.
    »Du mich zahlen«, sagte der Indianer.
    »Ich habe dir gerade erklärt«, widersprach der Marshall, »dass wir kein Geld mehr dafür haben. Der Große Weiße Vater will, dass ihr …« Er führte pantomimische Bewegungen des Pflügens, Säens, Erntens vor, die der Indianer mit hochgezogener Braue begutachtete.
    »Ich soll Arbeit von Weibern machen?«, fragte der Indianer schließlich. Er spuckte aus, trat in den Stapel mit Wolfsfellen und ging mit gesenktem Kopf und ohne Stolz davon.
    »Die verdammten Indianer wollen nicht begreifen, dass sich die Zeiten geändert haben«, meinte der Marshall. Nachdem niemand außer Speranza in Hörweite war, richtete er seine Bemerkung halb an sie, aber ein Pfosten oder eine blanke Wand hätten es zur Not auch getan. Teddys Namen auf einem Steckbrief zu lesen, hatte nicht gerade dazu beigetragen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Sie hatte gehofft - ein unrealistischer Traum, wie sie wusste -, ihm irgendwo im Territorium zu begegnen, damit er ihr helfen konnte, Johnny zu finden; aber wenn sie nüchtern darüber nachdachte, begriff sie, dass es ziemlich unwahrscheinlich war, einen Mann in diesem weiten Land aufzuspüren.

    »Schauen Sie mal!«, sprach sie der Marshall an. Er hielt eine Petrischale hoch, wie sie Biologen zum Züchten von Mikrobenkulturen verwendeten; sie hatte haufenweise davon in Dr. Szymanowskis Labor in Wien gesehen. »Der verdammte Indianer glaubt, er kann ein paar Wölfe

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