Wolfsruf
abschießen, sie herbringen und kriegt dann genug Geld, um sich eine Flasche Fusel zu kaufen. Das war einmal, Madam. Heute macht man es so. Sarkoptische Räude nennt man das.«
Das klang vertraut. »Ist das nicht eine Krankheit, die Wildtiere befällt?«, fragte Speranza.
»Mit dieser Schale hier, Madam, kann man hundert Wölfe töten … und sie sterben unter grauenhaften Schmerzen. Ungeziefer!«
»Da wir gerade von Wölfen sprechen, Sir, ich bin in Ihre Stadt gekommen, um mir einen Zirkus anzusehen, dessen Attraktion ein Mann sein soll, der sich in einen Wolf verwandelt; haben Sie davon gehört?«
Der Marshall kicherte. »Das muss Claggart sein. Ich habe seine Show nie gesehen, obwohl sie letzten Sommer in unserer Stadt war. Ich bin nicht hingegangen; aber meine Frau. Aber als der Junge sich verwandelte, fiel sie in Ohnmacht, deshalb konnte sie mir nicht verraten, wie sie das gemacht haben.«
Speranza wollte gerade etwas Höfliches darauf erwidern, als sie eine alte Frau bemerkte, die auf sie zukam. Sie blieb vor jedem Zirkusplakat stehen und schrieb mit einem Stift etwas darüber. Sie hatte einen erstaunlich festen Schritt, und als sie näher kam, fiel Speranza auf, dass auch ihr Adamsapfel hervorstand, während ihr Gesicht mit weißem Puder bedeckt war und ihre Lippen und Augen so grell bemalt waren, dass sie eine Parodie der Sinnlichkeit darstellte. Sie trug Zigeunerkleidung, Schals und Tücher und Ketten. Der Marshall war wieder in sein Büro verschwunden und hatte die Tür hinter sich zugeknallt, deshalb musste sich Speranza selbst diesem merkwürdigen Wesen vorstellen.
»Verzeihen Sie meine Zudringlichkeit, Miss … aber stehen Sie vielleicht in den Diensten eines gewissen Mr Claggart?«
Die Frau fuhr herum. Der Stift fiel ihr aus der Hand in den Schlamm. Die Hand presste sich vor den Mund.
»Keine Angst, Miss«, beschwichtigte Speranza. »Ich versichere Ihnen, dass ich nur ein paar Auskünfte möchte, sonst nichts.«
»Claggart ist tot!«, sagte sie. Ihre Stimme klang zugleich verängstigt und triumphierend.
»Tot? Starb er an einer Krankheit? Oder wurde ihm übel mitgespielt?«
»Niemand konnte ihm übel mitspielen«, widersprach die Frau. »Er hat ein Kind … einen kleinen Jungen …«
»Weg! In die Berge! Von zwei jungen Männern entführt, die so taten, als wären sie seine Freunde … Sie werden ihn an die Indianer verkaufen!« Sie packte Speranza an der Schulter und fixierte sie mit ihrem Blick. »Aber Sie sind eine gute Frau … Sie sollten sich nicht unter böse Menschen wagen … ich sehe eine bessere Zukunft für Sie … Geld, einen guten Ehemann … Werfen Sie das nicht fort nur wegen der Bestie in uns!«
Speranza versuchte, sich aus dem Griff der Wahnsinnigen zu befreien. Die Finger bohrten sich in ihr Fleisch. Die Alte schwadronierte immer weiter. Das arme Ding, dachte Speranza, vielleicht ist sie wahnsinnig geworden, weil sie zu lange Cordwainer Claggarts Wahnsinn ausgesetzt war. »Ich muss jetzt wirklich gehen, wenn ich den nächsten Zug noch Osten noch erreichen will«, wehrte sie sich außer Atem.
»Ha, ha! Der nächste Zug kommt erst in drei Tagen … Sie sind mir ausgeliefert.« Speranza erbleichte. »Ausgeliefert!« Ein hohes Kichern. »Ich lege Ihnen die Karten und lese aus Ihrer Hand und berechne Ihr Horoskop …«
Schließlich gelang es Speranza, sich zu befreien. Sie marschierte schnurstracks auf das Depot zu, in der Hoffnung, dass der Bahnhofsvorsteher ihr verraten würde, wie sie diese Stadt
noch heute verlassen könnte. Die alte Frau hatte ihr verraten, dass Claggart tot und der Junge fort war - es war entmutigend. Es sei denn, der Junge war von irgendwelchen Freunden befreit worden, die ihn eben jetzt zu den Wolfsindianern in den Black Hills zurückbrachten.
Sie fühlte, wie ihr die Nackenhaare zu Berge standen, sie spürte die Leere in ihrem Leib - der Albtraum kommt schon wieder, dachte sie. Und es ist nicht einmal Nacht! Sie öffnete ihre Börse, kramte fieberhaft nach dem Umschlag aus Wien mit dem Koka-Pulver. Nur eine Prise. Schnell! Die Straße schien unter ihr wegzusacken, sich in den Käfig, den Mutterleib zu verwandeln, wo sie auf die Jäger wartete -
Kein Koka-Pulver. Sie drehte sich auf dem Absatz um und sah die Alte eilig davonwackeln. Eine Brosche fehlte, wie ihr eben auffiel, eine Silberbrosche mit Topasen - ihr Gatte hatte sie ihr in die Hand gedrückt, kurz bevor sie zum Bahnhof gefahren war.
7
Red Bird, Wyoming-Territorium
Mond im letzten
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