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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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das bedeutet, dass sie selbst ausgelöscht werden.«
    Ganz ruhig antwortete der Junge - und Teddy bewunderte seine Autorität -: »Ich bin zurückgekehrt, wie ich es in meinem Traum gesehen habe; ich werde alle Wölfe zum Platz des Mondtanzes führen, und jene, die uns verletzt haben, werden zurückgetrieben über das große Wasser.«
     
    »Der Käfig ist zerbrochen!« Johnny hörte Jakes Stimme - schwach und verzerrt, sodass sie fast wie ein Echo seiner eigenen Stimme klang. »Wir sind frei!«
    Aber er hörte auch Jonas’ gehässiges Lachen. Die Käfigstäbe lagen auf dem Boden, verwitterten vor Johnnys Augen, der über das Licht staunte, das mit dem leichten Wind hereinströmte. Dort stand der Indianer in einem Sonnenstrahl; sein Haar war windzerzaust, sein Blick zum Himmel gerichtet. Vielleicht konnte er die Sonne sehen; er wäre der erste im Wald, dem das gelang.
    Die Käfigstäbe, die Dielen des Baumhauses - sie verrotteten, verströmten das süße Aroma des Herbstes.
    Der Indianer drehte sich zu ihm um. Sprach in der Indianersprache. »Wir müssen uns noch einem Feind stellen.«
    Johnny ging zu ihm hinüber. Sein Blick folgte dem ausgestreckten Arm, aber er sah keine Sonne, höchstens einen Adler, der mit weiten Schwingen am Himmel segelte.
    Der Indianer sagte: »Du hast den Rand meines Traumes erblickt. Bald wirst du alles sehen.«
    Jakes Stimme: »Wir kommen zusammen … wir vereinen uns … in einen einzigen Johnny mit allen Erinnerungen, aller Weisheit und allem …«
    »Schmerz!« Das war Jonas’ Stimme. Johnny war überzeugt,
dass es Jonas war, Jonas, der wie ein Tier knurrte, auch wenn kein Vollmond war … und doch klang die Stimme anders, beinahe mitfühlend. Jonas, der Dunkle, selbst Jonas wurde in den Kreis des Heilens hineingezogen.
    Das behagte Johnny nicht. Er konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, dass er, um ein Ganzes zu werden, sich der Dunkelheit stellen und zu ihr sagen musste: »Ich bin dein, und du bist mein, und wir gehören zusammen.«
     
    Die ganze Nacht durch sangen die Menschen im Dorf aus Freude über die Rückkehr von Ishnazuyais Sohn, der aus dem Reich der Toten zurückgekommen war.

11
    Winter Eyes
    Drei Tage vor Vollmond
     
    Die Welpen waren unruhig. Und auch Natalia hatte schlecht geträumt. Man füllte ihren Bauch mit Steinen. Sie versank in einem Fluss aus Blut - Blut strömte in ihre Nüstern, erfüllte ihre Lungen, ihr Leib explodierte, und tote Welpen gruben sich durch das Fleisch ins Freie, fraßen sie bei lebendigem Leib -
    Als sie erwachte, hingen die Kinder an ihren Brüsten; es war eine Stunde vor Sonnenaufgang. Die Witterung eines Fremden wehte durch die geschlossenen Fensterläden des Hauses von Bächl-Wölfling herein.
    Sie stand auf und öffnete einen Laden. Klares Mondlicht ergoss sich über das Himmelbett. Die Gazevorhänge bewegten sich im kalten Wind, der nach feuchter Erde roch. Sie zog sich an und starrte auf die Straße hinaus.
    Eine Fremde stand am Friedhofstor. Eine alte Frau, die wie ein Mann roch. Natalia erkannte sie.

    Die Kinder wälzten sich unruhig im Schlaf, suchten nach ihren Brüsten. Nur Petrushka, der Gnom, lag vollkommen ruhig da; seine Augen zuckten unter den Lidern hin und her, und Natalia fragte sich, ob er ebenso schlecht träumte wie sie.
    Sie ging hinunter.
    Der Wind heulte unermüdlich, und in der ganzen Stadt klapperten die Fensterläden wie die Gebeine eines Skeletts. Bald war Vollmond; Natalia konnte bereits mit den Augen der Nacht sehen, und die Haut unter dem Pelzstreifen auf ihrer Wange juckte und brannte.
    Entschlossen überquerte sie die Straße, und ihre Füße versanken im feuchten Schlamm. Sie erreichte die Kirche; die Frau wartete immer noch, und auf ihrem Gesicht lag das Schattenmuster des hohen Friedhofstores.
    »Juanita!«, fuhr Natalia sie an. »Was hast du hier zu suchen … du solltest die beiden bewachen und dafür sorgen, dass sie niemals zurück ins Dakota-Territorium kommen …«
    »Das sind sie auch nicht«, antwortete die Frau und zog sich den Schal fester ums Gesicht. »Wie oft wollten sie weiter als bis Fort Laramie? Und jedes Mal habe ich die Todeskarte aus dem Tarot gezogen und ihnen gesagt: ›Kehrt um, kehrt um.‹«
    »Ich habe dir immer mehr Gold geschickt, damit Cordwainer Claggart und das Kind keinesfalls hierherkommen … damit das Kind mit größter Grausamkeit behandelt wird … damit es ganz und gar zum Tier wird, in seinen eigenen Exkrementen hockt … Hat das Gold nicht gereicht?

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