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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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…«, sagte sie. Teddy Grumiaux lachte. »Ein Irrtum. Ich hätte die Männer in Utah nicht umbringen dürfen. Aber ich hatte keine Ahnung, dass es Menschen waren; sie rochen nach Wolfsschweiß.«
    »Sie haben ihnen nachgestellt?«
    »Ich habe Claggart getötet. Also kann ich jetzt mit dem Töten
aufhören und auf den Jungen hören, der den Wölfen Frieden bringen will. Vielleicht hat er recht.«
    Noch mehr Licht. Mehr Indianer mit Fackeln. Das Licht tanzte über ihre Gesichter, die wie Totenmasken bemalt waren; konnten das wirklich Friedensboten sein?
    »Sie sind nicht alle überzeugt, Miss Speranza. Sie wollten auf den Kriegspfad gehen, bevor Johnny und ich zu ihnen gestoßen sind. Sie waren wütend, und viele sind es immer noch.«
    »Sie werden nicht ewig wütend sein, Speranza … das verspreche ich dir. Ich habe die Wahrheit geträumt.«
    Johnny Kindred ergriff ihre Hand und führte Speranza an den Bach. An dem gegenüberliegenden Ufer befand sich eine Stelle, an die sie sich noch genau erinnerte. Aber kein Tipi stand mehr dort. Ein paar Greise und Greisinnen saßen in Decken gehüllt auf dem Boden und starrten vor sich hin, als wären sie bereits tot.
    »Wo ist das Dorf?«, fragte sie ihn.
    Teddy Grumiaux antwortete: »Sie haben es abgebaut. Die Büffelhäute auf die Traggestelle gepackt. Die Alten bleiben zurück, weil sie die anderen nur aufhalten würden; sie wollen hier sterben, nahe der heiligen Begräbnisstätte.«
    »Warum zieht das Dorf fort?«, fragte Speranza.
    »Sie wollen es bei Winter Eyes wiederaufbauen … am Platz des Mondtanzes.«
    »Mondtanzes?«
    »Wenn der Mond einen Großen Jahreskreis beschließt«, erklärte Johnny Kindred, »versammeln sich die Werwölfe der Ebene an einem heiligen Ort und tanzen einen Tanz, der das Universum erneuert. Ich bin ihr Seher, und ich werde sie zu diesem Ort führen; auch du hast eine Rolle zu spielen, Speranza, das hat mir mein Traum verraten.«
    »O Johnny … ich weiß doch gar nichts über diesen Mondtanz. Ich kam nur aus einem Grund hierher … ich glaubte, ich könnte dich aus der Gefangenschaft dieses Monsters Claggart
befreien. Ich dachte, ich könnte dich vielleicht mit nach San Francisco nehmen …«
    »Auch du hast eine Rolle zu spielen«, wiederholte er nachdrücklich. Und in seinen Augen spiegelte sich kaltes, gelbes Licht, als würde Jonas zu ihr sprechen; aber Jonas würde sich niemals so gewählt ausdrücken.
    »Aber was soll ich denn tun … ich spreche nicht einmal ihre Sprache …«
    »Du wirst neben mir stehen, wenn ich mich der absoluten Dunkelheit stelle. Wir werden zusammen tanzen, du und ich. Madonna und Kind, Wolf und Mensch, Mann und Frau.«
    Wieder fand sie das auf seltsame Weise obszön. Und wieder spürte sie hinter der Ruhe, die er ausstrahlte, hinter seinem sanften Benehmen und der ruhigen Eindringlichkeit seiner Stimme eine wahnsinnige, unstillbare Verzweiflung.
    »Du hältst mich für verrückt«, erkannte er.
    »Ja.«
    »Und trotzdem kommst du mit mir.« Er schaute an ihr vorbei. »Die Lakota halten mich auch für verrückt, Speranza.« Er lächelte und umfasste ihre Hand noch fester; unter seinen Fingernägeln quoll ein Blutstropfen hervor, aber sie achtete nicht darauf. »Aber sie glauben, es ist gut, verrückt zu sein … das ist ihnen heilig.«
    Und Speranza dachte: Vielleicht haben sie recht.
    »Es ist mir gleichgültig«, schloss sie endlich. »Vielleicht hat mich dein Traum hierhergerufen; vielleicht hast du mir eine Bestimmung zugewiesen, die ich nicht verstehen kann. Aber ich bin hierhergekommen, weil ich dich liebe, Johnny, genau wie du gesagt hast.«
     
    Der Regen wurde stärker, als sie bergab ritten. Ihr Pferd war neben Teddy Grumiaux und Castellanos, eine »Akquisition« der Gräfin von Dittersdorf, wie sie sich erinnerte. Sie trug immer noch Männerkleidung, denn sie konnten es sich nicht leisten,
auf eine Frau Rücksicht zu nehmen, die im Damensattel ritt.
    Frauen und Kinder und die Packpferde folgten nach. Sie ritten ohne Deckung, denn sie waren überzeugt, dass der Traum sie schützte, dass niemand sie sehen konnte.
    Bei Sonnenaufgang ließ der Regen nach. Morgennebel kroch die Felsen entlang und mischte sich mit dem dampfenden Pferdeatem.
    Im Tageslicht erkannte sie, dass dies keine Horde von Wilden war. Obwohl jeder ganz für sich ging oder ritt, scheinbar ohne sich um die anderen zu kümmern, war ihren Bewegungen doch ein eigener Rhythmus gemeinsam; irgendwie gelangten sie alle zu einem vorausbestimmten

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