Wolfsruf
fallen.
Dann drang die Stimme eines Kindes durch. Das Messer wurde weggezogen. Sie kannte die Stimme. Sie spürte Hitze, unter den geschlossenen Lidern ahnte sie flackernden Fackelschein. Die Kinderstimme sprach weiter. Sie sprach indianisch, in gleichmäßigem Rhythmus, der von uralter Weisheit kündete, und dennoch erkannte sie die Stimme als die des Jungen, den sie suchte.
Vorsichtig öffnete sie die Augen.
Er stand am gegenüberliegenden Rand der Lichtung. Er war nicht gewachsen, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. In der Zeit bei den Indianern war er schnell gewachsen; hatte das Zusammensein mit Cordwainer Claggart sein Wachstum gehemmt? Wie ein Indianer trug er nur einen Lendenschurz; eine Feder schmückte sein kurzes, eingefettetes Haar. Striemen zeichneten seine Arme, seine Brust: dünne, mit grauem Fell bewachsene Striche; sie wusste, dass er mit einer silberbeschlagenen Gerte geprügelt worden war. Er war dünn, ausgezehrt, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Trotzdem hielt er sich aufrecht, und seine Miene spiegelte einen Stolz wider, den sie
noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Zu beiden Seiten standen Krieger mit Feuerfackeln. Dahinter waren noch mehr Indianer zu erkennen.
Ein Krieger reichte ihr die Jacke. Sie zog sie sich an. Der Junge kam langsam auf sie zu. Als sie in seine Augen blickte, sah sie eine Person, die ihr noch nie begegnet war. Er blinzelte dreimal; sein Gesicht unterzog sich einer blitzschnellen Metamorphose; dann sagte er sehr ruhig: »Speranza.«
Einen Augenblick lang fehlten ihr die Worte. Endlich antwortete sie: »Ich bin wieder da.«
Er sagte: »Sie sind sehr wütend. Sie wollen alle Washichun ausrotten … Es tut mir leid, dass sie auch versucht haben …«
Er streckte seine Arme aus. Und plötzlich schien alles, was geschehen war - die Reise aus der Dunkelheit in noch tiefere Dunkelheit, die Jahre liebloser Einsamkeit in San Francisco -, bedeutungslos zu werden. Ihr fiel wieder ein, wie er sich zum ersten Mal voll Schmerz und Grauen an sie geklammert hatte - wie sie ihn zum ersten Mal umarmt hatte, wissend, was er war, was er werden würde.
Johnny sagte: »Wir gehen nach Winter Eyes. Ich will, dass sie das Licht sehen. Ich kam zu den Shungmanitu, als sie in einen schrecklichen Krieg ziehen wollten, in dem wir alle umgekommen wären, alle Wölfe … verstehst du? Ich habe ihnen erklärt, dass ich den weißen Wölfen zur Einsicht verhelfen könnte … weil ich immer noch der weiße Wolfskönig bin … das hat mich mein Vater gelehrt.«
»Johnny, ich … will dich … weit fortbringen, du bist immer noch ein Kind, Johnny, und das wird dich zerreißen. Johnny, du darfst nicht bei diesen Leuten bleiben … deshalb bin ich gekommen.«
»Nein, Speranza.« Das war nicht das ängstliche Kind, das sie zurückgelassen hatte. Er hatte viel von seinen anderen Persönlichkeiten in sich aufgenommen. Daran erkannte sie, dass er begonnen hatte, sich zu heilen, ganz zu werden. »Du bist
nicht hergekommen, um mich fortzuzerren. Du kamst, weil du wusstest, dass dies meine Bestimmung ist. Du kamst, weil du mich liebst. Du liebtest auch meinen Vater, sogar als du ihn am meisten hasstest. Und ich weiß, dass du mich liebst. Ganz und gar. Selbst Jonas. Du bist die Einzige, die auch Jonas liebt.«
Es war seltsam, einen so jungen Knaben derart sprechen zu hören. Und doch wusste sie, dass er die Wahrheit sagte. Und obwohl sie eine Gefangene des Waldes und unter Männern war, die sie überfallen und zu vergewaltigen versucht hatten, begriff sie, dass sie nicht mehr verloren war. Ich habe den Pfad gefunden, dachte sie. Johnny war ernsthaft und ruhig geworden, und als sie einander umarmten, versuchte sie verzweifelt, etwas von seinem Frieden in sich aufzunehmen.
»Komisch«, sagte sie. »Ich dachte, dass ich hergekommen wäre, um dich zu beschützen, um dich zu befreien. Und jetzt tröstest du mich … ich bin das verlorene Kind, und du bist der Vater.«
Johnny lächelte traurig. »Viele in mir sind auf dem Kriegspfad«, sagte er. »Aber der Krieg wird bald zu Ende sein. Wir werden Winter Eyes keine Zerstörung bringen. Wir werden heilen.«
Dann ergänzte eine andere Stimme, verändert, aber doch vertraut: »Miss Speranza … ich glaubte schon, Sie wären für immer von uns gegangen.«
Die Lichtung wurde heller. Ein Mann kam auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. Sie erkannte ihn sofort, obwohl er um viele Jahre gealtert schien.
»Ich habe Sie auf einem Steckbrief entdeckt
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