Wolfsruf
die Obszönität in der Berührung jenes unschuldigen Kindes. Jetzt war er älter, und immer noch sprach er wie ein Kind, aber sie spürte kräftige Muskeln unter seinen Kleidern.
Er schaute sie mit den Augen eines Mannes und eines Tieres an, und sie wusste, dass er Lust empfand.
Klirrendes Glas - Feuer leckte an den Schwingtüren des Saloons. Qualm tastete sich vor wie eine sprungbereite Katze. Natalia spürte, wie das Silber in ihr zehrte. Ihre Stimmbänder waren durchtrennt, nur ein Wimmern entrang sich ihrer Kehle, als sie über die skalpierten Leichen ihrer Untertanen auf die Kirche zukroch.
Meine Kinder, dachte Natalia, meine Kinder -
Feuer loderte über den überdachten Gehsteig, loderte in allen Farben des Herbstes.
Eine brennende Frau fiel auf die Straße - ein Mann ohne Hände winkte mit den Stumpen, aus denen Blut quoll.
Sie schleppte sich durch den Schlamm und erreichte das Portal der Kirche, sah Hartmuts Grabstein, der im Dämmerlicht einen langen Schatten warf.
»Zum Platz des Mondtanzes!«, rief Johnny und löste sich aus Speranzas Armen, ohne sich um das Blut und das Feuer zu kümmern.
»Johnny, bleib hier!«, schrie sie ihn an und versuchte, ihn am Ärmel zu packen. Der Stoff riss, und sie musste mit ansehen, wie er über den Trog und die Leichen mitten auf die Straße sprang.
Der Kopf eines alten Mannes - Andrew Raitt, der Uhrmacher - lag vor seinen Füßen im Schlamm. Das Morgenlicht drang durch den Qualm und färbte Johnnys Gesicht rötlich; wortlos und im Rhythmus einer unhörbaren Musik begann er sich mit geschlossenen Augen im Kreis zu drehen.
Grauen packte Speranza, das sie aus ihrem Versteck trieb. Sie rannte zu ihm, stolperte, kickte den Kopf durch die Luft, umfasste die Knie des Jungen, flehte: »Johnny, du musst dich verstecken, sonst bringen sie dich um …«
Und einen Augenblick lang war sie in ihrem Traum, und der rote Himmel war die Wand des Mutterleibs, der Blut weinte, und die Straße war der Geburtskanal, und sie wurde aus dem Leib des Wolfes gepresst -
Johnny deutete in den Himmel. Ein Adler kreiste über ihnen, von der Sonne weg, auf Weeping Wolf Rock zu.
»Wir werden den Mondtanz tanzen«, flüsterte Johnny. »Wir werden sie aus dem Land treiben … ich werde die geschundene Erde erlösen …«
»Bist du verrückt? Bist du besessen?«, fragte sie und glaubte einen Augenblick lang an das, was Cornelius Quaid ihr vor so vielen Jahren in der Victoria Station erklärt hatte.
Er öffnete den Mund. Ein hoher Jubellaut stieg auf - durchdrang das Heulen des Windes und die Todesschreie der Menschen und die Kriegsschreie der Indianer und das Krachen brennender Häuser. Er öffnete seine Arme, als wollte er den Sturm umarmen, der um ihn tobte und ihn mit einem Wirbelwind aus Qualm und Laub krönte. Viele ließen die Waffen sinken und blickten einander an, voller Angst und Selbstverachtung.
Der Junge sang. Und wie aus dem Nichts antworteten ihm Trommeln - und Speranza sah, dass ein Indianer einem toten Knaben die blutbefleckte Blechtrommel abgenommen hatte und mit ernster Miene darauf schlug.
Teddy war neben ihr, sagte: »Es ist ein neues Lied für einen neuen Mondtanz. Miss Speranza. Er will, dass sie sich von allem abwenden, was sie bisher getan haben. Es ist sehr heilig, große Zauberei.«
Das Massaker endete so urplötzlich, wie es begonnen hatte. Der Junge ging langsam die Straße hinunter und aus der Stadt hinaus. Speranza folgte ihm verwundert. Eine einzige Silberkugel war noch in dem Revolver, den Teddy ihr gegeben hatte.
Verwundete stützten sich auf ihre Ellbogen und stimmten in das Lied mit ein. Ein alter Mann weinte und fügte sich selbst
mit seinem Messer tiefe Schnitte in seine Flanke zu, bevor er sich in die Prozession einreihte.
Unter die Indianer mischten sich jetzt auch Überlebende aus der Stadt. Sie erkannte manche wieder - Damaris Crites, der als mittelloser Vagabund in die Stadt gekommen war und sich zu einem der grausamsten unter den Wölfen entwickelt hatte, Antoine Dozois, ein kanadischer Wolfsjäger, jetzt ein Wolf, der Menschen jagte, mit von der Räude zerfressenem Gesicht. Die weißen Werwölfe wurden in den Rhythmus von Johnnys Lied gesogen - der Adler kreiste über ihnen -, sie waren alle am Rande von Johnnys Traum versammelt.
War das Flötenmusik in dem Pfeifen des Windes? War es Einbildung, oder strahlte Johnnys Silhouette anders als nur durch den Widerschein der aufgehenden Sonne?
Alle, die die Musik vernahmen, folgten. Sein
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