Wolfsruf
geballten Händen in die Luft.
Die Straße hatte sich inzwischen mit Schaulustigen gefüllt; manche munterten die Streitenden auf, andere brüllten obszöne Beleidigungen. Der Himmel hellte sich langsam auf, bald
würde der Morgen dämmern, und sie hatten immer noch keinen Frieden mit den Bürgern von Winter Eyes geschlossen.
Sie sah Teddy vor einer Tür stehen. Er versuchte, zu ihr zu gelangen, aber er konnte sich nicht durch die Menge zwängen.
Einen Augenblick lang stand sie einfach da und starrte verzweifelt auf die Umstehenden. Dann sprang Natalia. Ihr blieb keine Zeit zum Nachdenken. Die Leitwölfin war wieder über ihr, spie ihr ins Gesicht. Speranza schloss die Augen, aber der Speichel brannte. Sie schlug immer wieder auf die Narbe an der Wange, bis ihre Finger das Fleisch aufgerissen hatten und sie einen Fetzen blutigen Fells in der Hand hielt. Und dann schleuderte Natalia ihren Morgenrock beiseite und stand nackt unter dem tief hängenden Mond, und sie sah den dampfenden Strahl hervorschießen, als sich Natalia mit gespreizten Knien zurücklehnte und Speranza mit Pisse übergoss. Speranza schloss den Mund, aber die ätzende Flüssigkeit ergoss sich ihr in die Nase, sodass sie nicht mehr atmen konnte und den Mund öffnen musste, nur damit er ebenfalls gefüllt wurde …
»Ich habe sie gezeichnet!«, triumphierte Natalia, trat Speranza in die Rippen, hob die Arme und urinierte immer weiter. »Ich habe sie gezeichnet, sie ist mein, sie muss tun, was ich will …«
Teddy bahnte sich einen Weg durch die Menge, mit gezogener Waffe. Speranza konnte seine Stimme kaum durch das Heulen des Windes und das Toben der Menge vernehmen: »Ich hab Silberkugeln, Miss Speranza … keine Angst … Ich komme!«
Ein paar Männer versuchten, ihm den Revolver zu entwinden, aber er schleuderte die Waffe mit aller Kraft von sich.
»Fangen Sie!«, schrie Teddy.
Sie landete im Schlamm neben ihrer Hand! Ihre Finger schlossen sich um den Knauf. Er fühlte sich seltsam an - kalt - sie zielte auf Natalia.
Der triumphierende Blick wich.
»Du hast Silber«, stellte sie fest. »Ach, ihr Emporkömmlinge seid alle gleich. Ihr könnt nicht ehrenhaft kämpfen … immer müsst ihr einen Vorteil suchen …«
Speranza bemerkte die Furcht in Natalias Augen. Ihr fiel wieder ein, wie sie Natalia zum ersten Mal gesehen hatte, erhaben, großartig, stolz auf ihre unangetastete Führungsposition, damals, als sie die Europäer im Frühlingsmondlicht begrüßt hatte. Wie kann ich sie töten, überlegte sie. Sie zögerte. Ihre Hand zitterte, als sie die Pistole fester umschloss.
»Schwächling«, höhnte Natalia. »Wenn du mich nicht mit Silber tötest, dann töte ich dich mit Blei!« Herrisch streckte sie die Hand aus; sofort wurden ihr mehrere Revolver gereicht. Sie nahm einen.
Die Menge schwieg.
»Oder vielleicht«, schlug Natalia vor, und Speranza war bewusst, dass ihre Furcht jetzt hämischer Ironie gewichen war, »möchtest du mir die Ehre erweisen, mich geziemend zu töten, bei einem Duell auf Leben und Tod?«
Speranza zögerte immer noch.
»In wenigen Minuten bricht die Dämmerung an … es wäre ein guter Augenblick. Ich schlage zehn Schritte vor … da du mich herausforderst, kann ich die Bedingungen festlegen.«
Rauch trieb heran, schlängelte sich unter den Vorbauten durch, zog über die Straßen. Irgendwo musste ein Haus in Flammen stehen … aber niemand kümmerte sich darum.
Zwielicht drang durch das Sakristeifenster, weckte Vishnevsky. Die Kinder! Schnell überzeugte er sich davon, dass sie in Sicherheit waren, sie schliefen noch. Etwas bewegte sich hinter dem Fenster - ein Schatten flog über den Raum. Er stellte sich auf den Stuhl, um auf die Straße hinausblicken zu können. Nichts. Unirdische, entsetzliche Stille … War er am Ende trotz des Lärms draußen eingeschlafen? Niemand war zu sehen. Es drängte ihn hinauszurennen, um nachzusehen, warum es so ruhig
war, aber er musste bei den Kindern bleiben - ihre Sicherheit war das Wichtigste in Winter Eyes.
Warum war es so still?
Ein Rauchtentakel schwebte durch den Raum. Der kleine Petrushka hustete, wachte aber nicht auf.
Sie drängten sich unter den Vordächern, aber die Straße war leer. Niemand sprach. Außer Teddy, der sich durch die Menge gezwängt hatte und Speranza zuflüsterte: »Keine Angst, Miss Speranza … sie muss gegen die Sonne zielen.«
Die beiden Frauen standen Rücken an Rücken, begannen loszugehen. Speranza riss sich zusammen, obwohl ihr
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