Wolfsruf
Blut raste. Sie wusste, dass sie längst in Ohnmacht gefallen wäre, wenn sie jetzt ein einschnürendes Korsett und Strumpfhalter getragen hätte.
Vielleicht bin ich ja deswegen gekommen, überlegte sie. Vielleicht muss ich sie töten, damit Johnny nach Winter Eyes zurückkehren und sein Erbe antreten und alle Werwölfe zwingen kann, ihm zu gehorchen.
Es klang falsch.
Vier Schritte.
Wo ist Johnny?, dachte sie. Ich muss ihn finden, ihn trösten.
Fünf.
Sie marschierte direkt der aufgehenden Sonne entgegen, aber sie wusste, dass im entscheidenden Augenblick Natalia in diese Richtung blicken würde.
Sechs. Sieben.
Das ist lächerlich! Wie bin ich da nur hineingeraten? Ich habe noch nie getötet, nicht einmal einen - einen - Gut, ich habe ein Duell in einer Wildwest-Show gesehen, die William und ich im Palace Theater besucht hatten; damals prallte die Kugel ab und riss ein Stück aus dem Kronleuchter.
Acht.
Sie strauchelte; Schlamm spritzte ihr ins Gesicht, auf die
Arme; der Wind wirbelte das Laub auf, das ihre Wangen und ihre Nacken kitzelte; sie dachte daran, wie oft sie den Tod in Winter Eyes gesehen hatte, wie oft die Wölfe die Toten zerfetzt, ihre Gedärme wie Garn herausgezurrt, wie sie sich in den warmen Bäuchen von Kindern gesuhlt hatten, die noch ein letztes Mal Atem zu schöpfen versuchten.
Neun.
Plötzlich war sie überzeugt, dass sie sterben musste. Aber es war ihr gleichgültig. Sie hatte in die Augen der Jägerin geblickt und ihr stillschweigend ihr Leben überlassen.
Zehn!
Sie wirbelte herum, fummelte nach der Pistole - Johnny stand vor den Zuschauern, blickte verzweifelt in den Himmel - und sie sah Natalia mit von der Sonne grellroten Augen und hörte wie aus großer Ferne den Schuss und hörte die Menge auf brüllen und hörte die Kugel im Wind singen und -
Plötzlich wich das Leben aus Natalias Augen und -
Ein entsetzter, blutgieriger Schrei stieg aus der Menge auf. In der Ferne donnerten Hufe. Natalia gab keinen Laut von sich; nur ein leises Pfeifen ertönte aus ihrer Kehle - die von einem brennenden Silberpfeil durchbohrt war!
Schon begann ihr Hals zu verschmoren. Speranza roch den Gestank verbrannten Fleisches. Natalia taumelte zur Kirche, aber schon tummelten sich kreischende Indianer in den Straßen, und blutrünstige »Huka hey«-Schreie durchschnitten die Luft. Ihre Augen tränten von dem Qualm aus dem brennenden Haus, das jetzt auf die Straße, in den Schlamm kippte. Speranza konnte kaum mehr etwas sehen. Sie rannte zu Johnny, kämpfte sich durch den blutigen Matsch - schlang ihre Arme um ihn.
»So habe ich es mir nicht vorgestellt«, sagte er leise.
Jetzt war auch Teddy da, winkte ihnen, zerrte sie zur Pferdetränke. Sie presste den Jungen an ihre Brust, duckte sich unter einem Brandpfeil hindurch und kroch hinter den Trog. Teddy
und Castellanos lagen bereits dahinter. »Schießen Sie endlich, Miss Speranza«, ermahnte Teddy sie. Abwechselnd feuerte und duckte er sich.
»Gegen wen kämpfen wir?«, fragte Speranza.
»Wir haben versprochen, bis Sonnenaufgang zurück zu sein, haben Sie das vergessen?«, sagte Teddy. Sie sah, wie ein Indianer vom Pferd sprang und einen Weißen am Schopf packte. Er zückte ein Skalpiermesser - ein Messer mit einer stumpf glänzenden, alten Silberschneide. Er skalpierte sein Opfer langsam und methodisch, als würde er eine Orange schälen, stieß es dann zur Seite - der Mann landete im Trog. Speranza wurde mit blutigem Wasser vollgespritzt, der Mann schnappte nach Luft, schlug mit den Armen um sich, während das Wasser in seine Lungen drang und ihn ertränkte.
»Warum sind sie so brutal? Wie können sie so grausam sein?«, fragte Speranza.
»Sie haben nicht gesehen, wie die Soldaten ihre Frauen vergewaltigt und ihre Kinder mit ihren Bajonetten aufgespießt haben, bevor sie die Tipis niederbrannten, sonst würden Sie nicht fragen, warum sie so sind«, gab Teddy ihr zur Antwort.
Jemand sprang auf sie zu. Sie feuerte blindlings.
Ein Mann taumelte, fiel vornüber in den Schlamm.
»Schießen Sie nicht auf die Indianer, verdammt noch mal!«, flüsterte Teddy ihr zornig zu. »Auf wessen Seite stehen Sie denn?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Speranza wahrheitsgemäß und feuerte wieder, sodass der Rückstoß sie gegen die Verandabretter schleuderte.
Und Johnny sagte: »Speranza, ich habe Angst«, und vergrub sein Gesicht an ihrem Busen. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie ihn so gehalten hatte, an dieses seltsame erotische Gefühl,
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