Wolfsruf
einem anderen Gast etwas ins Ohr flüsterte und dabei auf sie deutete. Ein Paar, das Walzer getanzt hatte, hielt inne und starrte sie mit unverhohlener Neugier an. Speranza drehte sich um und stellte fest, dass auch andere auf sie zeigten und kicherten. Die Musik brach mitten im Stück ab, als einer der Gäste zu den Musikanten hinübereilte, um ihnen den neuesten Klatsch zu verraten. Ängstlich blickte sie an ihrem Kleid herunter und fragte sich, ob sie sich versehentlich entblößt hatte.
»Warum starren Sie mich alle so an?« Sie war zutiefst verunsichert.
Die Gäste standen stocksteif um sie herum, mit glitzernden Juwelen und schmalen Augen, wie Raubtiere, die sich zum Sprung bereit machen.
Der Geruch wurde intensiver. Das süßsaure Aroma verrotteten Laubes. Ein finsterer Wald. Wilde, brünftige Tiere.
Dann hörte sie ein Flüstern in der Menge: »Der Mond geht in einer halben Stunde auf.« Die anderen nickten einander zu und wichen vor ihr zurück. Sie musterten sich misstrauisch, abschätzend, wie Raubtiere auf Beutezug. Und der indische Astrologe knurrte sie an - knurrte wie ein bissiger Hund!
»Der Mond geht auf …«
Sie begann zu zittern. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? Als sie das letzte Mal eine Metamorphose beobachtet hatte, war es dunkel gewesen; sie hatte sich in einem Eisenbahnwaggon befunden. Vielleicht bildete ein Zug ja ein ganz eigenes Universum, das die reale Welt zwar berührte, aber kein fester Teil darin war. Aber jetzt war sie in Wien, in einem großen Ballsaal mitten in einer Metropole, und der Raum war hell erleuchtet. Wenn hier etwas geschehen würde, wäre es wohl kaum nur eine Einbildung, ein Albtraum -
»Ein Tanz!« Eine Frau in einem bestickten Abendkleid reckte ihre Arme in die Luft und kreischte mit schriller Stimme: »Ein Tanz, meine Lieben, bevor wir uns alle in mörderische Bestien verwandeln!«
Shri Chandraputra widersprach: »Ah, die Transformation wird uns nicht vollkommen in Tiere verwandeln, denn wir lassen kein Mondlicht herein, nicht wahr? Und der Prozess wird von uns gesteuert, wir kontrollieren unsere dunkle Natur, dank der Entdeckungen des verehrten Dr. Szymanowski …«
»Ein Tanz … ein Tanz der Metamorphose … ein Tanz zu Ehren der Kraft des Mondes, meine Lieben, der uns so viel bedeutet wie die Sonne den armseligen Sterblichen …«
Dr. Szymanowski lächelte und ließ sich die Schmeicheleien des indischen Astrologen gern gefallen.
Wie auf sein Signal hin begann das Streichquartett, nun unterstützt von einem Pianisten, einen Wiener Walzer zu spielen, und rund um Speranza bildeten sich Paare, die der Mitte des Ballsaales zuströmten.
»Speranza, Speranza, ich habe Angst!« Woher kam die Stimme? Sie glaubte, den Jungen hinter einem großen Mann zu erblicken, der seinen Hut vor einer zierlichen alten Dame mit einem riesigen Schal zog. Speranza ging auf ihn zu, er drehte sich lächelnd zu ihr um, reichte ihr seinen Arm, als wollte er sie
zur Tanzfläche geleiten, und seine Zähne waren weiß, messerscharf, und troffen vor Speichel -
»Speranza!« Es kam woanders her - hinter ihr. Die Musik schwoll an, und gleichzeitig verstärkte sich der Geruch nach Lust und Grauen -
Wo ist das Kind?, dachte sie. Ich muss das Kind finden, ich muss es vor diesen Wahnsinnigen beschützen!
Dort war er, er unterhielt sich mit Dr. Szymanowski - täuschten sie ihre Sinne, oder wurde das Gesicht des Professors tatsächlich länger, seine Nase flacher, seine Augen schmal und unmenschlich? Sein Lächeln war zu einem hündischen Hecheln verzerrt, und durch seine glänzende Kopfhaut bohrten sich Haarbüschel -
Nein! Sie eilte zu dem Jungen und nahm ihn bei der Hand. Seine Handfläche war rau, heiß. Sie zerrte ihn von dem Professor weg. »Wir müssen hier raus«, keuchte sie. »Komm mit, Johnny. Bitte.« Ich darf ihn meine Angst nicht merken lassen, darf das Kind nicht beunruhigen, darf das Monster in ihm nicht erwecken.
»Ich habe Johnny getötet, ich bin jetzt bei meinem Volk!« Die Stimme des Jungen war tief und rau. Dr. Szymanowski knurrte sie an, sie sah den Speichel an seinem Kinn herunterlaufen und dunkle Haare aus seinen Wangen sprießen. Sie drückte Johnny an sich, bahnte sich mit Ellenbogen ihren Weg durch die Gäste, die jetzt wie wild zu der Musik tanzten, die juwelenbesetzten Kleider und die Kronleuchter wirbelten um sie, sie schlug mit ihrer freien Hand zu und fegte Champagnergläser auf den persischen Teppich, auf dem Wölfe einander in einer unendlichen
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