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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.P. Somtow
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widerwärtigen Gestank des Todes im eisigen Wind.
    Die Wölfin jaulte. In ihrem Schrei waren Worte: einzelne, unzusammenhängende Worte - »Eisen … Monster … ohne Gesicht …«
    »Du sprichst also doch noch, meine Schwester. Du bist noch nicht ganz in die Welt der Vierbeinigen eingetaucht …«
    Die Wölfin jaulte wieder, aber diesmal verstand die alte Frau nichts. Vielleicht bilde ich mir bloß ein, dass sie immer noch unter uns ist, dachte sie.
    »Lass uns singen, meine Schwester. Ein letztes Lied.«
    Sie sangen, und ihre Stimmen erhoben sich klagend über den scheppernden Trommelschlag des nahenden Ungeheuers. Zusammen sangen sie ein Lied der Trauer, die Frau, der Wolf und der Wind.

12
    Wien
    Vollmond
     
    Johnny umklammerte ihre Hand, während sie im Durchgang standen. Die Gäste schenkten ihr überhaupt keine Aufmerksamkeit; die meisten waren ins Gespräch vertieft, ein paar standen um das Podest neben den Balkontüren am anderen Ende des Saales, wo ein Streichquartett musizierte. Die vier Musiker waren im Frack, trugen gestärkte Hemdbrüste und musizierten, tief über ihre Notenständer gebeugt. Die Fensterläden vor den Balkontüren waren geschlossen und ließen weder frische Luft noch das abendliche Licht herein, und obwohl der Saal recht weitläufig war, roch die Luft abgestanden und muffig. Speranza gewöhnte sich langsam an den Uringeruch.
    Sie stand einfach da, ein bisschen verlegen, und wusste nicht, was man von ihr erwartete. Einer der Gäste näherte sich ihr - es war der elegant gekleidete Inder, der ihr bereits aufgefallen war. »Mademoiselle«, begrüßte er sie und sprach mit schwerem Akzent auf Deutsch weiter: »Sie sind also auch beim Lykanthropenverein …«
    »Ich verstehe kein Deutsch«, unterbrach sie ihn lächelnd, auf Englisch.
    »Ah, wie angenehm. Man freut sich doch immer wieder, wenn man auf einen Untertan Ihrer Majestät trifft, nicht wahr?« Er musterte sie abschätzend, zwirbelte dabei seinen Schnurrbart und reichte ihr gleichzeitig mit der anderen Hand eine goldene Schnupftabaksdose, die mit eingelegten Amethysten, Smaragden und Perlmutt verziert war. »Möchten Sie vielleicht etwas Schnupftabak?« Als sie ablehnte, machte er eine kurze Kopfbewegung, und ein kleiner Negerjunge, gekleidet in eine goldbestickte Seidentunika, erschien, um ihm die Dose abzunehmen. »Vielleicht ziehen Sie eine Zigarette vor? Ich weiß, dass die
Damen Ihres Volkes Zigaretten vorziehen. Aber am Ziel unserer Reise sind Zigaretten sehr rar, wie ich gehört habe.«
    »Am Ziel unserer Reise …« Sie bemerkte, dass Johnny aufmerksam schnüffelte und seine Augen unruhig durch den Raum wandern ließ, und verstärkte ihren Griff. »Ich verstehe nicht, wie Sie das meinen.«
    »Ah, sprechen wir nicht von der unbekannten, wegweisenden Zukunft. Ergötzen wir uns an der Vergangenheit, solange es noch geht. Ich werde mein Heimatland sehr vermissen. Sie sind, Ihrer Kleidung nach, Engländerin, nicht wahr? Wie wohltuend es ist, in meiner Muttersprache reden zu können, denn selbstverständlich bin auch ich ein ergebener Untertan Ihrer Majestät Victoria, der Herrscherin von Indien. Möge sie tausend Jahre leben.«
    »Eigentlich bin ich Französin. Aber ich habe mehrere Jahre in England gelebt. Und dieser Junge, der zurzeit meiner Fürsorge anvertraut ist, ist Engländer, wie er Ihnen selbst bestätigen wird.«
    »Nun gut, nicht jeder kann das Glück haben, unter dem leuchtenden Stern Britanniens geboren zu sein, dennoch möchte ich Sie willkommen heißen, Madam.« Er verbeugte sich tief vor ihr, sodass die Pfauenfedern an seinem Turban erzitterten. Johnny versuchte sie zu fassen und lachte auf, als sie seine Finger kitzelten. »Und auch Sie heiße ich in aller Bescheidenheit willkommen, junger Sahib. Ich heiße Shri Chandraputra Dhar und war einst Chef-Hofastrologe des Nawab von Bhaktibhumi, bevor ich mit Schimpf und Schande vom Hofe gejagt wurde, aus Gründen, die ich Ihnen bestimmt nicht näher zu erläutern brauche.«
    »Ich weiß wirklich nicht, wie Sie das meinen«, verneinte Speranza. Sie schienen alle anzunehmen, dass sie eine der ihren war und all ihre Geheimnisse kannte.
    Der junge Diener erschien mit einem Tablett, auf dem ein paar Gläser Champagner und ein kleines Schälchen Kaviar standen, und Chandraputra strich mit den Fingern durch die
krausen Locken des Kleinen. »Heute diene ich dem Nawab nicht mehr, aber Seine Gnaden, der Graf, war so freundlich, mir eine Anstellung in seinem Haushalt zu geben,

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